Autor Thema: Flockentanz  (Gelesen 565 mal)

Erich Kykal

Flockentanz
« am: Januar 26, 2021, 10:23:54 »
Und wieder tanzen Flocken durch den grauen Himmel,
als feierten sie frei ihr einzigartiges Gesicht
in einem unterschiedslos wirbelnden Gewimmel,
und wüssten um den Schmutz der Erde und ihr Schmelzen nicht.

Und wieder tanzen Flocken durch die kalten Lüfte
wie Auferwachte zu dem Wirbelnden, das sie bewegt,
und ahnen nicht um eines Frühlingsbodens Grüfte,
auf deren Gärung sich vertrauensvoll ihr Reines legt.

Und wieder tanzen Flocken mir durch die Gedanken,
als wüsste höher ich zu schätzen sie als Sommers Staub,
aus dem von je nur Wachstum und Verwesung stanken,
die auch mein Schicksal sind wie jenes von Salat und Laub.

Und wieder tanzen Flocken mir vor alten Augen,
und sind vielleicht die letzten, die ich jemals wirbeln seh -
ein Jahr vielleicht noch mag der welke Leib noch taugen,
dann decken mich Vergessen und ein ewig neuer Schnee.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Flockentanz
« Antwort #1 am: Januar 26, 2021, 12:59:11 »
Hi eKy!

Ein Wintergleichnis, bei dem ich aus naheliegenden Gründen vehement auf die Unterscheidung von Autor und Li dränge! :)

Formal hast Du hier ein ungewöhnliches (aber stimmiges :) ) metrisches Schema gewählt: Es wechseln sich sechs- und sieben-hebige Zeilen ab. Bei mehr als sechs Hebungen und einem nicht paargereimten Gedicht wird es für das Ohr des Hörers meist schwierig, die Reimendungen im Vortrag noch gut herauszuhören, zumindest, wenn die rhythmische Gestaltung nicht ohne Fehl und Tadel ist. Da Du Letzteres aber gewohnt souverän realisierst :), hält man auch die Überlänge der Zeilen durch, ohne dass der Text in einen Prosa-Klang kippt. Es hat schon Gründe, warum sich drei-, vier- und fünf-hebige Verse so allgemein durchgesetzt haben; bei kürzeren Zeilen ist es viel einfacher, einen überzeugenden Reimklang zu generieren - aber Du suchst ja gerne die technische Herausforderung! :)

Zwei kleine Stutz-Momente hatte ich, einer davon war mit leicht gefältelter Stirn verbunden, der andere mit einem erfreuten Lächeln:

- Z.10: Hier passt der Konjuktiv für persönlich mich nicht, da der ganze Duktus des Gedichts tatsächlich von einer Wertschätzung der Flocken kündet (wenn auch eine mitleidige Wertschätzung, da sie auf dem "gärenden" Schmutz der Erde enden). Der ganze rhetorische Aufwand, der den vergehenden Flocken gilt, wird doch entwertet, wenn sie in der Achtung des LI mit Staub und Schmutz auf einer Stufe stehen. Und ganz unabhängig davon, erscheint mir die artikellose Fügung "als Sommers Staub" irgendwie verstümmelt - zwar grammatisch nicht falsch, aber für mein Sprachempfinden eher unschön. Vorschlag daher: "Ich schätze sie wahrhaftig höher als den Sommerstaub,"

- Z. 12: Hier gesellte sich Erfreunis zur Überraschung: Das Wörtchen "Salat" ist in Gedichten, die den "hohen Ton" pflegen, unterrepräsentiert, denn (hier greift ein schwer bestimmbares psychologisches Momentum) es gibt tatsächlich unter den Wörtern der korrekten Hochsprache solche, die eine aristokratische Aura verströmen und solche, die von plebejischerer Natur sind. Am besten kann man das wohl wirklich im vegetabilen Feld nachvollziehen: Es gibt so manche Gedichte in erhabenem Gestus, in denen Lorbeer, Myrte, Wermut, Kalmus, Bambus, Efeu, Rosen, Astern, Reseden, Lilien, aber auch das bescheidene Veilchen oder das unauffällige Gras besungen werden. Hingegen lassen sich (abseits komischer Lyrik) kaum Beispiele finden, in denen meinethalben Petersilie, Rettich, Kürbis oder Mais zur Sprache gebracht werden. Auch der Schnittlauch wäre hier wohl zu nennen, weshalb Karl Krauss ihm als eine Art Verfremdungseffekt ein im Wortsinne todernstes Gedicht in erhabenster Sprache widmete. Oder man denke an Jan Wagners Sonett über den Giersch, das sich ebenfalls in den höchsten, der modernen Lyrik zur Verfügung stehenden Tönen, eines Outlaws unter den lyrischen Gewächsen annimmt.
Zu solcher Art gehört für mich auch der Salat. Schwer vorstellbar, dass ein Hölderlin oder Schiller den Salat zum Gegenstand ernster Lyrik machen würden oder Rilke ihm süchtige Zeilen widmete. Hier in Deinem schönen Gedicht aber taucht er auf und wird sogar zu einem Sinnbild menschlichen Schicksals. Mir hat das sehr gefallen, weil es zum Nachdenken anregt, über eingefahrene und inhaltlich nicht begründbare Lesegewohnheiten im Bereich der Lyrik. :)

Also eine anregende und sehr schöne Lektüre, die Du hier der geneigten Kenntnisnahme des Lesers anheim gestellt hast. :) Dankeschön dafür! :)

S.
« Letzte Änderung: Januar 28, 2021, 13:39:32 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Flockentanz
« Antwort #2 am: Januar 26, 2021, 17:30:10 »
Hi Suf!

Vielen Dank für die ausführliche Textbesprechung!  :)

Und nein, ich hoffe doch, noch ein wenig länger zu leben, obwohl man in diesen Zeiten nie sicher sein kann ... - hier bot es sich aus dramatischen Gründen nur als Conclusio an.

Was du mit der Kritik am Konjunktiv meinst, verstehe ich. Meine Sichtweise war, dass der Konjunktiv ja von einer Möglichkeit spricht, die erst auf Anfrage verifiziert werden kann, und auf welche das LyrIch natürlich geantwortet hätte: "Ja, es ist tatsächlich so, dass ich die Flocken höher zu schätzen weiß als den Staub des Sommers."
Deine Sicht unterstellt die Unterstellung, dass das LyrIch auf jeden Fall mit "Nein!" geantwortet hätte, bzw. dass der Konjunktiv hier in negierender Funktion auftritt, indem der Satz automatisch weitergeführt werden konnte mit: "..., aber dem ist nicht so!".
Aber für mich ist ein Konjunktiv für sich erst mal wertfrei und lässt grundsätzlich offen, nach welcher Seite sich die Schale neigt.

Dennoch erkenne ich, dass dein Einwand darin berechtigt ist, dass dieses Konstrukt einen Leser verwirren könnte. Ich denke über eine klarere Version nach.

Den "Salat" habe ich durchaus bewusst gewählt, denn ich wollte etwas sehr Prosaisches, Alltägliches, Irdisches an dieser Stelle, das wie das Laub den vergleichsweise "unsauberen" Zyklus von Werden und Vergehen allen Lebens verdeutlicht. Die Nähe von Salat zur Erde, dem "Schmutz" und seinen geruchsintensiven Zerfallsprozessen wie Schädlingen ist ebenso hilfreich zur Verdeutlichung des Bildes als Gegensatz zum noch klinisch reinen, kristallin fallenden Schnee.

Ich hoffe, du kannst meine Gedankengänge nachempfinden.

LG, eKy
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AlteLyrikerin

Re: Flockentanz
« Antwort #3 am: Januar 27, 2021, 13:05:36 »
Hi Erich,

ein Bild des Winters, das Endlichkeit in Schönheit zelebriert und doch den Schmerz über die Endlichkeit nicht leugnet. Für diese besondere Art auf den Winter zu sehen, verzeihe ich Dir sogar den eher befremdlichen Blick auf meine zweitliebste Jahreszeit, den Sommer.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Flockentanz
« Antwort #4 am: Januar 27, 2021, 13:57:16 »
Hi AL!

Als Kind liebte ich den Sommer heiß (klischeehaftes Wortspiel ...  ::)) - aber damals waren sie eben noch nicht soooo heiß! Oder ich bin altersbedingt hitzeempfindlicher und kreislauflabiler geworden, sodass mir die (immer früher einsetzenden und länger andauernden) Hundstage jedes Jahr ordentlich zu schaffen machen, und das auf fast 700m Seehöhe!

Nun, ich habe natürlich auch einige weniger hitzelastige Sommergedichte geschrieben, aber hier wollte ich den Gegensatz und vor allem die Sympathielastigkeit zugunsten einer Seite - gerade im Kopf des LyrIch - besonders scharf hervorkehren.  ;)

Vielen Dank für deine Gedanken!  :)

LG, eKy
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