Goethe, den alten "heimlichen Muselman" auf seinem östlichen Diwan, bewundere ich aus manchen Gründen, weniger für seine Sonette. Siehe "Nemesis": In S1Z2 gibt es einen betonten Auftakt - zumindest will diese Zeile, wie von Goethe formuliert, so gelesen sein. Ein eindeutiger Schnitzer des Genies ...
Als begeisterten Leser Goethescher Lyrik erfreut mich Deine Bewunderung für das Werk des Geheimrates sehr (mit dem man menschlich ja leider einige Probleme haben muss) und Deine Bewertung als Genie kann ich nur unterstreichen. Dabei erhebt sich der olle Zausel (vielleicht auch wegen seiner menschlich-moralischen Gebrechen) in meinem lyrischen Erleben nie auf einen hohen Sockel, sondern bleibt immer "nahbar" (was er im persönlichen Umgang sicher nicht war).
Umso mehr muss ich aber als Goethelyrikbewunderer dagegen protestieren, dem Alten sei in seinem Sonett Nemesis ein "Schnitzer" unterlaufen!
Goethe war in der Wahl seiner lyrischen Bilder nur mittel-originell und kein besonders einfallsreicher Reimwort-Finder. Auch seine intellektuellen Leistungen können wohl mit Schiller nicht ganz mithalten (überragen allerdings immer noch fast die gesamte sonstige Konkurrenz). Wo er aber wirklich unübertroffen war und bis auf den heutigen Tag blieb, das ist seine reiche Sprache und seine Musikalität. Goethe konnte mit völliger Leichtigkeit unfallfrei ein Gedicht in jedem beliebigen Metrum bauen und dabei den Rhythmus dem Inhalt anpassen (vgl. die beiden Gedichte "Meeresstille" und "Glückliche Fahrt"). Aber sehr oft hat Goethe unglaubliche rhythmische Stolperer in Gedichten eingebaut. Eine plötzliche Formschwäche des Dichters? Kaum... der Goethe hat sich dabei immer etwas gedacht...
Um im Beispiel, der von eKy gerügten Zeile 2, zu bleiben: Es stimmt schon: Diese Zeile ist schwierig, ja praktisch unmöglich, klassisch akzentuiert zu lesen. Selbst ein betonter Auftakt löst die Akzentuierungsschwierigkeiten nicht völlig. Wenn man so liest (betonte Silben fett): "
Soll man
vor-sich-tig" kommt man ab der nächsten Silbe in Schwulitäten, entweder man liest das "die" betont, dann muss man nach vor-sich-tig eine brachiale Sprechpause zum Luftholen einlegen und das "die" betonen wie einen Donnerschlag (was diesem harmlosen Artikelchen irgendwie nicht gerecht wird) oder man liest unbetont weiter, dann kann man erst wieder bei "Ge-
sell-schaft" eine Betonung definieren, hätte dadurch aber vier (!) unbetonte Silben hinter einander, was jedem Metrum total zuwiderläuft (im Deutschen sind schon drei unbetonte Silben hinter einander ein Problem). Ein weiterer (Nicht-)Ausweg, nämlich "...vor-
sich-tig
die Ge-
sell-schaft" zu lesen, erzeugt eine völlig schräge Betonung auf "-sich". Bleibt noch die letzte Möglichkeit, am Anfang "soll man" unbetont zu lesen und erst bei "
vor-sich-tig" die erste Betonung zu sprechen. Auch dann hat man wieder den sehr unhandlichen Superakzent auf dem folgenden "die" (siehe oben), der die Zeile rhythmisch ins Schlingern bringt. Also, was tun, sprach Zeus?
Die Lösung, auf die der Goethe hinauswill, ist weitgehend unakzentuiert, mit schwebenden Betonungen, zu lesen. Dabei schweben fast alle Silben etwa auf gleicher Akzentstärke, außer dem "vor" von vorsichtig:
"soll man
vor-sich-tig die Ge-"
Erst ab dem "sell" von Gesellschaft geht es dann mit abwechselnd akzentuierten Silben weiter "
sell-schaft
las-sen".
Der Effekt ist, dass man diese Zeile sehr vorsichtig lesen muss und das Wort vorsichtig dabei betont wird. Und das ist kein Schnitzer sondern überaus raffiniert.
LG!
S. (Team Goethe)