Autor Thema: Werdegang eines Amokläufers  (Gelesen 3229 mal)

Agneta

  • Gast
Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #15 am: Mai 18, 2020, 19:47:49 »
ich würde da nicht nur einen Amokläufer sehen, lieber Erich. Sondern auch einen Menschen, der Schlimmes in Jugend und Kindheit erlebt hat. Traumata hat, sich abkapselte. Das In sich Versteinertsein, die Hilflosigkeit ( verglommen Stunden ohne Halt und Wesen)spiegelt sich in dem ersten Sonett, was mir poetisch stärker scheint. Was unheimlich berührt.
Das Zweite gehört jedoch unbedingt dazu, falls man es nur auf den Amokläufer münzen will. Ich denke jedoch, es passt ach auf eine bestimmte Sorte Gewalttäter, Mörder...
Stark geschrieben. LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #16 am: Mai 19, 2020, 00:43:08 »
Hi Agneta!

Warum wir zu Gewalttätern werden bis hin zum erweiterten Siuzid, mag viele Auslöser haben. Mir ging es darum, den Moment einzufangen, wenn aus Depression, Leid und Selbstversunkenheit der Wille gerinnt, Rache zu üben oder sich mittels Aggression Gehör oder einfach nur Luft zu verschaffen.
Wenn jemand, der ein Opfer ist oder war - oder ein Opfer zu sein glaubt, weil er selbst sich dazu stilisiert hat - sich entschließt, zum Täter zu werden.

Viele von jenen differenzieren dann nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen - es geht nur noch darum, wie im Rausch zu töten, all den angestauten Hass, die bodenlose Wut, den brennenden Zorn mittels Gewalttat in alle Welt hinauszuschreien.

Aber Achtung: Es besteht ein gravierender Unterschied zu religiösen oder politischen Selbstmordattentätern. Diese töten so viele wie möglich und zuletzt sich selbst aus einem strategischen Kalkül heraus, das andere ihnen andressiert haben.


Der Amokläufer hat keine Botschaft außer die des eigenen Schmerzes und/oder Hasses. Sie mögen schon jahrelang davor daran gedacht und es im Geiste immer wieder durchgespielt haben, um sich so seelische Erleichterung zu verschaffen, aber was sie letztendlich über die letzte Kante schubst, ist meist irgendein emotionaler Auslöser, kein politisches oder religiöses Kalkül mit Zeigefingerbotschaft an die Nachwelt.

Ich weiß das, weil ich als gemobbter Teenager selbst jahrelang von so einem endgültigen Befreiungsschlag träumte und mir nach Demütigungen aller Art immer wieder nachts im Bett die "geistige Kassette" vorspielte, wie sie alle von mir niedergemäht oder genüßlich möglichst grausam und schmerzhaft demütigend zu Tode gebracht würden, jämmerlich, aber vergebens um ihr unwürdiges Leben bettelnd, erst im letzten Augenblick erkennen müssend, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatten... Ich hatte eine geheime Hitliste, wer die schmerzhaftesten Strafen am meisten verdient hätte - ja, so ist man drauf als seelisch niedergeknüppeltes Kind ...
Natürlich habe ich es nie wirklich durchgezogen - ich wollte nicht mal Fliegen erschlagen und weinte als kleiner Junge um jeden toten Grashüpfer! Aber diese Folter- und Tötungsfantasien haben mir wirklich geholfen, dieses letzte Quentchen Selbstrespekt aufrecht zu erhalten, das mich damals davon abhielt, mich selbst - oder andere - zu verletzen, weil sie dem Schmerz des Verachteten ein so großes Gegengewicht (wenn auch nur in der Vorstellung) gegenüberstellten, dass die Waage unterm Strich einigermaßen ausgeglichen blieb.

Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es Situationen gegeben haben könnte, in denen die Demütigungen so unerträglich hätten werden können, dass ich eine Kurzschlusshandling hätte begehen können, und wer weiß, wie das ausgeufert wäre, denn ich wäre ein sehr heimtückisch intelligenter Mörder gewesen, und ich hatte eine laaange Liste ...

Um eines klarzustellen: Ich heiße keine Bluttat gut, und was ich in jugendlicher Unreife womöglich angerichtet hätte, hätte mich, so ich es selbst überlebt hätte, später auf jeden Fall zerbrochen. Ich bin froh, dass es nie dazu kam. Ein klein wenig wahnsinnig bin ich damals wohl gewesen ...
Aber ich kann so zumindest jene Amokläufer verstehen, die nicht so viel Glück hatten wie ich damals, bei denen das letzte Stückchen Selbstbeherrschung nicht genügte, oder die von irgendeinem Ereignis, das sie völlig überwältigte, sozusagen getriggert wurden. Nicht, dass ich ihre Taten des Wahnsinns rechtfertigen wollte ...

LG, eKy

« Letzte Änderung: April 12, 2022, 10:13:00 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #17 am: Mai 19, 2020, 12:39:51 »
na, da kann man dir nur für die Stärke gratulieren, dass du dich doch im Griff hattest. Denn auch Töten aus Schmerz bleibt Mord.
Mal jemandem eine verpassen, der mobbt, ok, das habe ich auch getan als Kind. Da ich schmal war, nahm ich ein Grimms Märchenbuch zuhilfe…
Das ist nicht schön, aber legitim, finde ich. Töten jedoch rechtfertigt sich nie. Das muss man wissen, wenn man es täte.
Unschuldigen schaden, wie beim Amok, nur weil man selbst leidet, ist nicht legitim und auch nicht zu rechtfertigen. Ebenso wie Tiere quälen.
Es gibt Wege, böse Menschen zu bestrafen und du kennst sie alle, denn du bist Pädagoge und ein intelligenter Mann.
Es ist der Blickwinkel, der falsch ist beim Amokläufer.
LG von Agneta

gummibaum

Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #18 am: Mai 19, 2020, 13:21:23 »
Das ist, lieber Erich,

eine sehr gute Beschreibung dieses Menschen: mehr der äußerern Erscheinung im ersten und der Ursachen und Ziele im zweiten Gedicht. Der Exkurs in die eigene Jugend mit der laaangen Liste hat mir auch gefallen. Ich unterwarf und befreite (welch ein Widerspruch) in meinen Fantasien auch die Welt. 

Chapeau und Grüße von
gummibaum
« Letzte Änderung: Mai 19, 2020, 13:45:29 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #19 am: Mai 19, 2020, 15:05:01 »
Hi Agneta, Gum!

Danke für eure Beiträge! Natürlich gebe ich Agneta recht, die nicht extra hätte ausführen müssen, dass derlei Taten unzulässig und verdammenswert sind - das wusste ich auch damals schon, als ich mir diese saftigen Rachefantasien zusammenträumte! Und ich wusste immer schon, dass Mord an Unschuldigen absolut untragbar ist, egal wie sehr man selbst leidet.

Wirklich verstehen, was es mit einem macht, wenn man jahrelang und nachhaltig von jenen verachtet, erniedrigt und gedemütigt wird, deren Respekt und Achtung einem in diesem Alter bei weitem am wichtigsten wären, kann nur jemand, der es selbst erlebt und durchlitten hat.
Wie zutiefst zertreten, wertlos und zu Unrecht unverstanden man sich fühlt, so sehr, das man zu Zeiten Zuflucht zu Hybris und zeitweiligem Wahnsinn nehmen muss, um ein letztes Quentchen Selbstachtung zu erhalten, das einen gerade noch so funktionieren und überdauern lässt, in der vagen Hoffnung auf bessere Tage ...

Genug des Selbstmitleids - es ging ja hier nur darum, die Seelenlandschaft einzufangen, die einen sozusagen über die letzte Klinge springen lässt, und dazu war die eigene jugendliche Erfahrungswelt ein guter Ratgeber.

LG, eKy
« Letzte Änderung: April 12, 2022, 10:14:29 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #20 am: Mai 27, 2020, 13:40:42 »
Lieber Erich,

bin beeindruckt. Ohne Erklärungsversuche, aber auch ohne Entschuldigung wird hier eine psychische Ausnahmesituation geschildert, die etwas von der Ausweglosigkeit eines griechischen Dramas hat. Der "Held" hat keine Chance seinem Schicksal zu entgehen, aber seine Opfer auch nicht, und um beide Seiten dieses Dramas sollte Elektra Trauer tragen.

Ob so etwas je rechtzeitig erkannt und verhindert werden kann? Die Zerstörung eines Menschen bzw. seine Wandlung in einen zur Empathie unfähigen Soziopathen kann sowohl durch grausame Vernachlässigung (von Missbrauch u.a. abgesehen) als auch durch Überbehütung, unerträgliche Bevormundung hervorgerufen werden. In einer Zeit der Überindividualisierung verringern sich die sozialen Räume, die so etwas vielleicht erkennen und auffangen können.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Erich Kykal

Re: Werdegang eines Amokläufers
« Antwort #21 am: Mai 27, 2020, 19:03:15 »
HI AL!

Missbrauch usw. wird landläufig als Auslöser für Empathielosigkeit oder Sozoipathie überschätzt.

Die meisten Soziopathen sind "einfach so geworden", ohne sich groß in diese Richtung zu stilisieren. In der ganzen Bandbreite menschlicher Charakterbildung gibt es eben auch die Extreme - von extrem mitfühlenden und liebenden Menschen bis hin zum Gegenpol. Das ist ganz natürlich und verbessert die Überlebenwahrscheinlichkeit der Menschheit in außergewöhnlichen Umständen.
Wenn es hart auf hart kommt, wird vielleicht  - unter den richtigen Umständen - eher der Unsoziale überdauern, der rücksichtslos alles tut, um zu überleben. Moralisch mag das aus unserer Sicht verwerflich sein, und kaum ein Film kommt ohne die "gerechte Strafe" für diese Art Bösewichte aus, aber aus rein neutraler Sicht geht es nur um eine garantierte Weitergabe der Gene. Überleben der Art. Moral ist da sekundär.

In einer stabilen moralischen Kultur sind es übrigens die Soziopathen, die am ehesten Karriere machen und zu Reichtum und/oder Macht gelangen.

In meinem Doppelsonett geht es um einen Psychopathen - jemanden, der ein Soziopath mit pathloloisch pervertiertem Begehren ist (was nicht immer ein sexuelles Begehren sein muss). Er "entpuppt" sich, beschließt, nicht mehr nach den Regeln zu spielen, die ihm sein Begehren und dessen Erfüllung verweigern.
Und die Rache als Kompensation für alles als Unrecht Empfundene kann ein extrem starkes Begehren sein ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 24, 2021, 18:12:31 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.