Autor Thema: Sie ist ein Fallen  (Gelesen 1110 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Sie ist ein Fallen
« am: M?RZ 02, 2020, 17:02:13 »
Nicht jeder kennt und fühlt die Einsamkeit.
Sie ist ein Fallen aus den Menschenmassen,
ein zögerndes Ermahnen und Vergeben,
ein stetes Aufergehen und Verblassen
der Tage, Nächte, Monde und der Sonnen,
und auch die Traurigkeit der goldnen Wonnen,
die zu erreichen ich nicht mächtig bin,
die Liebe, Freundschaft, alle Zaubertage
zieht der Wellengang mit sich hinfort.
Auch seh ich Dinge gehn, die jeder hat,
ein Leben: gleich ob Dorf, ob große Stadt,
ein Rosenblatt, verstreute Herzen, das
für jeden seine Treue zärtlich breitet;
der Tagtraum schließt sich bunt und satt,
ein Wanderer bin ich, der leise schreitet.
Mein letzter Blick jedoch bleibt schwer und nass.
So bleibe ich allein, so sehr allein
und schlaf ganz leis im Arm des Abends ein.
Ich kann nichts tun als einfach nur zu schauen.
Im Stillen wartend Hoffnungen erbauen,
die Suche nach dem Licht, nach einem Wir.
Ich seh und fühle mich in fremden Armen,
die wie ein Greifen aus den Rosen reifen,
das mich zu überstrahlen weiß an warmen
und goldnen Frühlingstagen. Sieh, ihr Schweifen
streift mich, wie hingeruht auf meinen Pfaden: 
Ich gehe alle Wege nur mit ihr.
« Letzte Änderung: M?RZ 03, 2020, 11:46:51 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #1 am: M?RZ 02, 2020, 18:11:47 »
Nicht jeder kennt und fühlt die Einsamkeit.
Sie ist ein Fallen aus den Menschenmassen,
ein zögerndes Ermahnen und Vergeben,
ein stetes Aufergehen und Verblassen
der Tage, Nächte, Monde und der Sonnen,
und auch die Traurigkeit der goldnen Wonnen,
die zu erreichen, ich nicht in der lage bin,  Kein Komma nach "erreichen", "Lage" groß. Allerdings ist diese Zeile 6-hebig. Korrekt wäre: "die zu erreichen ich nicht mächtig bin."
die Liebe, Freundschaft, alle Zaubertage
zieht der Wellengang mit sich hinfort. Für unbetonten Auftakt und die üblichen 5 Heber: "zieht grauer Wellengang ...".
Auch seh ich Dinge gehn, die jeder hat,
ein Leben: gleich, in einem Dorf, ob Stadt, Schöner: "ein Leben: gleich ob Dorf, ob große Stadt,".
ein Rosenblatt, verstreute Herzen, das
jedem seine Treue zärtlich breitet; Betonter Auftakt. Alternative: "für jeden seine Treue ...".
der Tagtraum schließt sich bunt und satt,
mein letzter Blick jedoch bleibt schwer und nass.
So bleibe ich allein, furchtbar allein Hebungsprall "allein, furchtbar". Lösung: "So bleibe ich allein, so sehr allein".
und schlaf ganz leis im Arm des Abends ein.
Ich kann nichts tun als nur zu schauen. Diese und die nächsten zwei Zeilen sind nur vierhebig. Absicht? Ansonsten: Füge hier "einfach" nach "als" ein.
Im Warten kann ich Hoffnung bauen Füge hier "stillen" nach "Im" ein.
nach einem immergrünen Wir. Füge hier "zärtlich" nach "einem" ein.
Ich seh und fühle mich in fremden Armen
und gehe alle meine Wege nur mit ihr. Sechshebig. Streiche "meine", dann passt es.


Hi, EV!

Wieder ein sehr schönes, vom Stil an Rilke gemahnendes Werk, das aber eigenständig genug ist, um für sich selbst stehen zu können. Ein paar metrische Unwuchten, manche vielleicht gewollt, habe ich bearbeitet.

Inhaltlich voll auf meiner Linie!  :)

Ausgesprochen gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #2 am: M?RZ 02, 2020, 18:52:43 »
Hallo Erich,

ja, das Gedicht ist aus meinen Fingern geflossen und wenn dem so ist, lasse ich vieles unberührt.
Dennoch habe ich den ein oder anderen Vorschlag übernommen und verwoben. Dafür bin ich sehr dankbar!

(Der Hebungsprall bei "allein - furchtbar" ist mir gleich... Wobei: "so sehr" auch ausgesprochen gut ist, ach, ich nehme es!)

Ich danke Dir sehr fürs Vorbeischauen und Beklugfummeln!

vlg

EV
« Letzte Änderung: M?RZ 02, 2020, 19:25:34 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #3 am: M?RZ 02, 2020, 21:02:31 »
Hi EV!

Auch mir fließen die meisten Gedichte aus den Fingern, dennoch überarbeite ich sie hinterher, finde bessere Phrasen, glätte Metrik und Sprachmelodie, wenn nötig.

Wer bestimmt, dass "aus der Feder Geflossenes" in Beton gegossen zu sein habe und nicht mehr angetastet werden darf?

Sogar Jahre später ändere ich noch manche Stelle in alten Werken, wenn mir etwas Besseres für bestimmte Stellen einfällt. Mir geht es um das optimale Gedicht, nicht um die eherne Fixierung in der Eile des Augenblicks eingeflossener Makel.

Aber jeder wie er möchte ...  ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #4 am: M?RZ 03, 2020, 09:51:28 »
Hi Erich,

natürlich bestimmt das keiner, ich habe diverse Ziele, die ich noch verfolge:

a) zu lernen eine freiere Metrik einzubinden, ohne das dabei merklich der Sprachfluss abhanden kommt
b) "dichter" schreiben zu lernen, weniger prosaisch
c) größerer Wortschatz
e) bessere Satzstellungen

Beispielsweise gefällt mir der Teil noch nicht so sehr, was lyrischen den Ausdruck betrifft:

Ich kann nichts tun als nur zu schauen.
Im Warten kann ich Hoffnung bauen (Im Stillen wartend Hoffnungen erbauen?)
nach einem immergrünen Wir.
       (Die Suche nach dem Licht, nach einem Wir)
Ich seh und fühle mich in fremden Armen
und gehe alle meine Wege nur mit ihr.

Hoffnung "bauen" klingt mehr umgangssprachlich und technisch als lyrisch respektive auch reimgezwungen. "erbauen" wäre hier eine Lösung, dabei gäbe es aber ein Problem mit "Hoffnung"; ich müsste also den gesamten Satz umschreiben.... Die zwei Zeilen gefallen mir überhaupt nicht mehr... Weil sie bereits wieder sehr prosaisch und erzählend sind. Ich will davon wirklich weg kommen

Außerdem will ich es grundsätzlich vermeiden Adjektive einzubinden, die unnötig wären (einzubinden um beispielsweise auf Hebungen zu kommen, um das Metrum zu glätten).
Die Silben, die dadurch verloren gehen, könnte man für bedeutungsschwere Sätze verwenden... 
 
Im "stillen" Warten ist beispielsweise sehr schön, vermeiden will ich Ausdrücke
wie "sanft", "zart", "sacht", weil es diese Worte dutzenfach in Gedichten gibt und man das durchs "don't tell, show!" auch zeigen könnte. Beispiel für Hoffnung mit Partizip:

Ich halte, wartend, meines Angesichts
williges Schauen in den Wind der Tage
und klage den Nächten nicht ...


Ich persönlich finde es sehr herausfordernd beispielsweise fünfer Jamben zu schreiben, die komplett frei von Füllsel und von Adjektive sind. (Frei von unnötigen Adjektiven)
Man könnte diese durch Partizipialkonstruktionen ersetzen.

Ich arbeite auch noch weiter an meinen Werken, so war das nicht gemeint, nur will ich bewusst lernen freier zu schreiben. Dann sind es halt mal nur drei Hebungen, dann mal wieder sieben.
Ich weiß, dass das Dein Befinden stört, wenn die Form und das Metrum ausbrechen. Es gibt definitiv Arbeiten, wo ich selbst viel Wert darauf lege, wie bspw. "Wind", Sonette, oder Gedichte, die eine strikte Form brauchen wie bspw. mein Gedicht "Projektion" oder "Ich trage diesen Augenblick".
 
Der Moment, in dem die Sätze fließen, ist oft der ehrlichste Moment und das will ich meist nutzen, um es vorerst wirken zu lassen. Entscheiden tue ich mich meist später, oder auch eher... Je nach dem. :)

vlg

EV

Edit:

Ich habe einiges umgeschrieben, das sollte jetzt so alles passen. Deine Vorschläge habe ich übernommen:

Nicht jeder kennt und fühlt die Einsamkeit.
Sie ist ein Fallen aus den Menschenmassen,
ein zögerndes Ermahnen und Vergeben,
ein stetes Aufergehen und Verblassen
der Tage, Nächte, Monde und der Sonnen,
und auch die Traurigkeit der goldnen Wonnen,
die zu erreichen ich nicht mächtig bin,
die Liebe, Freundschaft, alle Zaubertage
zieht der Wellengang mit sich hinfort.
Auch seh ich Dinge gehn, die jeder hat,
ein Leben: gleich ob Dorf, ob große Stadt,
ein Rosenblatt, verstreute Herzen, das
für jeden seine Treue zärtlich breitet;
der Tagtraum schließt sich bunt und satt,
ein Wanderer bin ich, der leise schreitet.
Mein letzter Blick jedoch bleibt schwer und nass.
So bleibe ich allein, so sehr allein
und schlafe leis im Arm des Abends ein.
Ich kann nichts tun als einfach nur zu schauen.
Im Stillen wartend Hoffnungen erbauen,
die Suche nach dem Licht, nach einem Wir.
Ich seh und fühle mich in fremden Armen,
die wie ein Greifen aus den Rosen reifen,
das mich zu überstrahlen weiß an warmen
und schönen Frühlingstagen. Sieh, ihr Schweifen
streift mich wie hingeruht auf meinen Pfaden:
Ich gehe alle Wege nur mit ihr.
« Letzte Änderung: M?RZ 03, 2020, 12:44:14 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #5 am: M?RZ 09, 2020, 16:15:24 »
Ich stimme eKy zu, lieber EV! Das sind im "Jargon" an Rilke gemahnende Verse! :) Irgendwo habe ich einmal das Adjektiv "süchtig" gelesen, als diese symbolistische Sprache von Rilke und den lyrischen Kombattanten seiner Zeit beschrieben wurde: süchtige Zeilen... das trifft es, weil man hier einer Sprache begegnet, die auf der Suche ist und dabei getrieben wirkt von der Suche und Sucht - wonach? Nach Schönheit? Nach Befreiung? (flüchtig reimt sich allzu verlockend auf süchtig)...
Irgendwann früher habe ich auch zur Annäherung an die Zeilen aus Deiner "Feder", die in diesem Gestus geschrieben sind, den Vergleich mit der Selbstbespiegelung des schönen Narziss gewählt - nicht um anzudeuten, dass Deine Zeilen oder das Lyrische Ich etwa selbstverliebt seien - keineswegs - sondern um die gewissermaßen entrückte Haltung zu beschreiben, mit der die Sprache hier quasi in sich selbst ertrinkt.
Als Leser kann man das Gefühl bekommen, einem großen Monolog beizuwohnen. Als Gegenentwurf kann zum Beispiel der ganz stark zugewandte, manchmal sogar belehrende Ton von Brecht dienen. Bei Brecht gibt es immer einen Adressaten für "die Botschaft", auch und gerade in den (besten) Gedichten Brechts, die eigentlich gar keine Botschaft verkünden, weil sie einfach "nur" von schönen (!) Dingen reden.
Brechts Liebesgedichte - die phallischen wie die "anständigen" - sind hier ein schönes Beispiel (vgl. die schöne Zusammenstellung "Bertolt Brecht - Liebesgedichte", Insel Taschenbuch, für 7 EUR... ein wirklich preiswürdiges Lesevergnügen!). Es wird hier genauso die Schönheit (oder ihr Verlust bzw. ihre Bedrohung) zum Thema gemacht wie meinethalben bei Rilke, aber nicht in dessen selbstversunkener Mystik sondern steter Hinwendung an den Leser.
Will ich jetzt das eine Konzept gegen das andere ausspielen? Überhaupt nicht. Aber es lohnt sich, darüber zu reflektieren und für sich selbst zu entscheiden, ob man mehr der einen oder anderen Richtung zu tendiert (oder sich nicht festlegen will). :)
Jedenfalls sehr gerne und angeregt gelesen! :)
S.
« Letzte Änderung: M?RZ 09, 2020, 16:17:43 von Sufnus »

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #6 am: M?RZ 09, 2020, 16:34:17 »
Nach Schönheit?
Irgendwann früher habe ich auch zur Annäherung an die Zeilen aus Deiner "Feder", die in diesem Gestus geschrieben sind, den Vergleich mit der Selbstbespiegelung des schönen Narziss gewählt - nicht um anzudeuten, dass Deine Zeilen oder das Lyrische Ich etwa selbstverliebt seien - keineswegs - sondern um die gewissermaßen entrückte Haltung zu beschreiben, mit der die Sprache hier quasi in sich selbst ertrinkt.


Hi Sufnus,

ich persönlich präferiere immer Schönheit und folgende Dichter konnten das meiner Meinung nach besonders gut:
Hesse, Selma Meerbaum-Eisinger, E. Goll, Rilke, das trunkene Lied von Nietzsche, und einige Gedichte von Goethe.
Hier im Speziellen, wo es um Rilke geht, beschrieb Rilke in einem seiner Briefe, dass man einen flüchtigen Moment in der bestmöglichen Schönheit verpacken soll. (Briefe an einen jungen dichter):

"Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren.

Schreiben Sie nicht Liebesgedichte; weichen Sie zuerst denjenigen Formen aus, die zu geläufig und gewöhnlich sind: sie sind die schwersten, denn es gehört eine große, ausgereifte Kraft dazu, Eigenes zu geben, wo sich gute und zum Teil glänzende Überlieferungen in Menge einstellen.

Darum retten Sie sich vor den allgemeinen Motiven zu denen, die Ihnen Ihr eigener Alltag bietet; schildern Sie Ihre Traurigkeiten und Wünsche, die vorübergehenden Gedanken und den Glauben an irgendeine Schönheit - schildern Sie das alles mit inniger, stiller, demütiger Aufrichtigkeit und gebrauchen Sie, um sich auszudrücken, die Dinge Ihrer Umgebung, die Bilder Ihrer Träume und die Gegenstände ihrer Erinnerung."


Es gibt einige Gedichte von Rilke, die ich nicht mag - Rilke konnte beispielsweise hervorragende Prosa schreiben, trotzdem will ich mitnichten leugnen, dass die vielgestaltige Schönheit seiner Sprache auf mich eine große Sehnsucht und Anziehung auslöst. Wie bei der Meerbaum, fühle ich mich in den Bildern und in den Klangstufen vollständig verstanden und sicherlich werde ich mich immer in dem Spektrum umhertreiben, weil ich es liebe, weil ich es verstehe und selbst mit einer ähnlichen Empfindsamkeit verwoben bin.

An Deine Kritik zu meinem landschaftlichen Herbstgedicht, kann ich mich noch sehr gut erinnern, die "Sucht nach Tiefe zur Sprache" verstehe ich auch.
Es ist dann immer schade, wenn ich mir meiner Grenzen bewusst werden muss. 
Im Vergleich zu anderen nüchternen Dichtern wie Fontane, Brecht, Heine, Kästner; finde ich in diesen Werken weniger poetisches Verständnis und Verhalten und Verfließen, ich finde eher einen Hauch von Mathematik, die sich in handwerklicher und meisterlicher Dichtung versteht, die aber weniger Schönheit in sich trägt. Ich versuche vielschichtig zu unterscheiden. Rationale Dichtung ist nicht meins. 

Ich danke Dir für Deinen Kommentar! Den Brecht für sieben Euro werde ich mir just bestellen.

vlg

EV
« Letzte Änderung: M?RZ 09, 2020, 16:40:13 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #7 am: M?RZ 09, 2020, 16:48:38 »
Hey!
Vielen Dank für Deine Antwort - Du bist schon sehr weit gekommen in der Reflexion der Lyrik und dem Entwurf einer eigenen Poetik. :)
Dass Du Dir das kleine Inselbüchlein zulegst, freut mich sehr - wer weiß, vielleicht findest Du ein paar Gedichte von Brecht darin, die es schaffen, Dich zu berühren. :)
Achte mal auf die Umschwünge in seinen Gedichten, wenn plötzlich inmitten der Derbheit oder des nüchternen Parlandos ein Moment großer Zärtlichkeit aufscheint oder die Sprache ganz unvermittelterweise regelrecht "abhebt". Das fühlt sich wie starke Dynamikwechsel an: von Laut nach Leise oder von Leise nach Laut. Und ich glaube schon, dass der alte Brecht dann die Ebene der Mathematik verlässt und direkt ins Herz findet. :)
LG!
S.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Sie ist ein Fallen
« Antwort #8 am: M?RZ 09, 2020, 16:55:29 »
Hey!
Vielen Dank für Deine Antwort - Du bist schon sehr weit gekommen in der Reflexion der Lyrik und dem Entwurf einer eigenen Poetik. :)
Dass Du Dir das kleine Inselbüchlein zulegst, freut mich sehr - wer weiß, vielleicht findest Du ein paar Gedichte von Brecht darin, die es schaffen, Dich zu berühren. :)
Achte mal auf die Umschwünge in seinen Gedichten, wenn plötzlich inmitten der Derbheit oder des nüchternen Parlandos ein Moment großer Zärtlichkeit aufscheint oder die Sprache ganz unvermittelterweise regelrecht "abhebt". Das fühlt sich wie starke Dynamikwechsel an: von Laut nach Leise oder von Leise nach Laut. Und ich glaube schon, dass der alte Brecht dann die Ebene der Mathematik verlässt und direkt ins Herz findet. :)
LG!
S.

Eines meiner Lieblingsgedichte ist von Brecht!
Die Bestellung ist durch, kann es nicht erwarten!  O0 ^-^

Erinnerung an die Marie A. (1920)

1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiss, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.

3
Und auch den Kuss, ich hätt' ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.