Autor Thema: Der Knabe im Moor  (Gelesen 908 mal)

gummibaum

Der Knabe im Moor
« am: September 02, 2019, 14:31:06 »
Ein dunkles Moor bin ich, verkleide
den wasserreichen Untergrund
mit schönem Wollgras, Schilf und Heide,
doch tödlich küsst mein schlaffer Mund.

Gehenkte mit verengten Kehlen
versenkte man in meinen Schlick,
doch deren ruhelose Seelen
lass ich ins Abendgrau zurück.

Und nun ist Abend, und ein Knabe
macht sich vom Kirchlein auf nach Haus.
Er quert mich eilig, doch ich grabe
so gern die Angst der Kinder aus.

Gleich heult der Wind auf düstrer Fläche,
der Knabe duckt im Nebel sich:
Ihn dünkt, der Gräberknecht verspreche
Gestohlenes ihm freventlich.

Er weicht zurück, doch nickt die Föhre,
die wie die Spinnlenor dort steht:
Er glaubt, die Schreckliche beschwöre
ihn haspelnd, dass er mit ihr geht.

Er rennt davon, doch vor den Sohlen
tut sich mein Grund melodisch auf:
Ihm graust, als wolle sie ihn holen,
die Hand des Hochzeitsgeigers Knauf.

Ein Seufzer ringt sich aus der Tiefe,
der Knabe flüchtet wie ein Reh.
Ihm ist, als ob die Margret riefe:
„Zu Hilf, verdammt bin ich, oh weh!“

Schon spüre ich das Kind versinken,
bewahren werde ich den Rest.
Da scheint ein Stern mir zuzuwinken,
und meine Ränder werden fest.

Der Knabe fühlt es, dankt den Mächten.
Ein Licht winkt ihm vom Elternhaus. -
Ich lass die Geister Wollgras flechten
und lösch mein Irrlicht heute aus…


(nach der Ballade von Annette von Droste-Hülshoff)
https://www.deutschelyrik.de/der-knabe-im-moor.395.html
Anmerk.: v. Droste-H. lässt nur Knochen im Moor zurückbleiben. Tatsächlich löst das saure Milieu die Knochen auf und konserviert den Rest.
« Letzte Änderung: September 02, 2019, 14:33:34 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #1 am: September 02, 2019, 21:13:13 »
Hi Gum!

Gruselig - schaurig - schön!

Die Wissenschaft streitet ja, ob die Moorleichen tatsächlich "Gehenkte" waren, also zum Tode verurteilte Verbrecher, oder abgesetzte Keltenkönige, die einem alten Opferritus zum Opfer fielen, oder die Verlierer eines Kampfes um die Krone ...

Aber zu Anette's Zeiten waren es wohl Gehenkte. Auch andere Anspielungen in deinen Versen scheinen der Zeit entlehnt: Gräberknecht, Spinnlenor, Hochzeitsgeiger Knauf, Margret.
Wohl damalige Hexen und Sagenwesen, oder berüchtigte Mörder ... - ohne deine abschließende Bemerkung über deine "Quelle" hätte ich all diese Erwähnungen überhaupt nicht zu deuten gewusst. Was genau sich dahinter verbirgt, bliebe zu recherchieren ...

Ich habe das Original mal vor vielen Jahren gelesen - dein Werk muss sich nicht dahinter verstecken!

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #2 am: September 03, 2019, 09:13:06 »
eine gruselige Ballade, lieber Gum. Moor verursacht einem immer ein Schaudern. Ich könnte nicht wohnen, dort, wo große Moorflächen sind.
LG von Agneta

gummibaum

Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #3 am: September 03, 2019, 09:25:15 »
Lieber Erich, liebe Agneta,

vielen Dank. Die Moorleichen sehen zum Teil so aus, als würden sie gleich erwachen. Darin steckt auch diese Mischung aus Grausen und Faszination, die dem Moor selbst eigen ist und gewiss zur Erfindung der Spukgestalten beigetragen hat. Heute sind Moore ja Naturschutzgebiete.

Liebe Grüße von
g







Erich Kykal

Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #4 am: September 03, 2019, 09:43:20 »
Moore sind langschaftlich recht reizvoll, vor allem die Hochmoore in Gebirgstälern. Die sind auch nicht im klassischen Sinne "nass", so wie man sich das von Gruselgeschichten her immer vorstellt. Aber auch das unbegehbare Niedermoor hat seine Reize, sogar wenn die Nebel ziehen. Ich mag solche Stimmungen. Bloß auf die Mücken kann ich verzichten ...

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #5 am: September 04, 2019, 11:48:45 »
Hi gum,
auch ich möchte mich vorbehaltlos in den rühmenden Moorchor einreihen! Das ist für heutige Verhältnisse kein ganz kurzes Gedicht mehr und Du hast die Länge in meisterhafter Formsicherheit bestritten! Kein einziger metrischer Stolperer, untadelige Endreime, durchgängig-gleichmäßiger Wechsel von männlichen und weiblichen Kadenzen, wunderbare Binnen- und Anfangsreime, klangschöne Formungen, lebhafte Bilder... ein Lesegenuss wieder einmal! :)
Lg!
S.

gummibaum

Re: Der Knabe im Moor
« Antwort #6 am: September 10, 2019, 09:58:59 »
Na, wenn das kein Lob ist... Danke, lieber Sufnus!

Auch an Erich nach ein Danke für den moorkundlichen Beitrag.

Gruß gummibaum