Autor Thema: Lyriklesetipps :)  (Gelesen 1714 mal)

Sufnus

Lyriklesetipps :)
« am: Januar 06, 2021, 13:32:45 »
Ihr Lieben!

Ich hab mir heute mal einen Spaß daraus gemacht, mir zu überlegen, welchem der in diesem Winter aktiven Wiesengewächse ich wohl welchen Lyrikband empfehlen würde... wobei ich versucht habe, mögliche Lesevorlieben zu berücksichtigen und eher etwas unbekanntere oder niedrig beauflagte (aber trotzdem natürlich sehr gute!) Werke herauszusuchen, damit möglichst keiner von Euch schon im Besitz des Lesetipps ist... ob das wohl geklappt hat? 
Jedenfalls habe ich wohl eindeutig zu viel freie Zeit ;D

Wie dem auch sei - es kam die folgende Liste dabei heraus:


eKy - Albrecht Haushofer - Moabiter Sonette - C. H. Beck

gum - Peter Gan - Ausgewählte Gedichte - Wallstein Verlag

Agneta - Kornelia Koepsell - Die Mundharmonika - Edition Faust

Jenny - Peter Rühmkorf - Aufwachen und Wiederfinden - Insel Verlag

AL - Lisel Mueller - Brief vom Ende der Welt (zweisprachig dt./engl.) - MaroVerlag

Hans - Andreas Reimann - Das große Sonettarium - Connewitzer Verlagsbuchhandlung

ACL - Paul Maar - JAguar und NEINguar / Gedichte von Paul Maar - Verlag Friedrich Oettinger

Rocco - Philipp Luidl - Das Wort beim Wort genommen - Maro

Copper -  Peter Maiwald - Ich ging den Worten auf den Leim - Edition Virgines

Wolfmozart - Gertrud Kolmar - Liebesgedichte - Insel Verlag

Phoenix - Eugene Ostashevsky (Übers. M. Rinck / U. Wolf) - Der Pirat, der von Pi den Wert nicht kennt: Gedichte englisch-deutsch - kookbooks

Ylva - Anne Dorn - Jakobsleiter - poetenlagen Verlag


Und um noch die offensichtliche Frage zu beantworten: Was ist mein Lesetipp an mich selbst? Nun ich werde mir wohl als nächstes von Carolin Callies "fünf sinne und nur ein besteckkasten" anschaffen. :)
« Letzte Änderung: Januar 15, 2021, 12:36:35 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #1 am: Januar 06, 2021, 19:25:44 »
Hi Suf!

Vielen Dank für den Tipp, und dass du dir soviele Gedanken ums Wohl anderer machst! Wenn ich mit Kramer durch bin, werde ich mich wohl damit beschäftigen. Der Autor ist mir bis dato unbekannt gewesen.

Zu Kramer: Sein Stil gefällt mir grundsätzlich, und er hat echt gute Wortschöpfungen und Phasen zuweilen, aber irgendwie fehlt mir bei seiner Lektüre so ein gewisses Etwas ... vielleicht weil er Bilder der Umgebung, von Zuständen oder Handlungen oft verbal gar allzu breit auswalzt, öfter mal unbewusste (oder zumindest so wirkende) Wortwiederholungen pflegt, um dann wieder gemeinsprachliche Begriffe einzuflechten. Seine lyrische Sprache ist - bei aller künstlerischen Kreativität, die ich ihm keineswegs abspreche - doch ein stückweit "handfester", geerdeter als meine eleganter, gehobener elaborierten Satzkonstrukte - so zumindest will mir über weite Strecken scheinen.
Wäre sein Stil ein wenig akkurater verdichtet, er läse sich leichter und spannender, wie ich finde. Aber ich bin erst am Beginn des Buches - ich werde ein abschließendes Urteil erst am Ende fällen (und selbst dann vorsichtig damit sein ...). Dies soll nur ein erster Eindruck sein.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #2 am: Januar 07, 2021, 11:31:33 »
Hi eKy!

Freut mich sehr, wenn ich Dich auf etwas Unbekanntes aufmerksam machen konnte. Wie gesagt, ich habe extra versucht, nicht allzu geläufige Werke aufzuführen - aber alle sind mir, so gänzlich verschieden sie sein mögen, gleichermaßen lieb und teuer! :)

Ich denke, Dir oder z.B. Agneta könnte auch manches Poem von Peter Gan durchaus sehr munden, so wie auch Haushofer bei etlichen unserer Mitstreiter Anklang fände. Auch die Wunderbaren "Kinder"-Verse Paul Maars düften wohl manchem Mitstreiter gute Laune bescheren. :) Je stärker die übliche "Schreibe" der jeweiligen Nutzer sich unterscheidet, desto geringer dürften dann die Übereinkünfte sein. :)

Gerade der Fall Haushofer ist ein besonders tragischer - dieser hochgebildete und überaus weltläufige Mann, schrieb die Sonette in der Todeszelle in Moabit, wo er als Nazigegner auf sein Ende wartete. In den letzten Monaten gab es dabei immer noch einen minimalen Hoffnungsfunken für Haushofer, da Himmler damit liebäugelte, Haushofer, der gute Kontakte nach England hatte, womöglich noch irgendwie benutzen zu können, um in einem Nachkriegsszenario den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Als aber die Befreiung Berlins von den Nazis unmittelbar bevor stand, wurde Haushofer von NS-Schergen bei einer Überführung in ein anderes Gebäude hinterrücks erschossen. Die Blätter mit seinen Gedichten trug er bei sich und sein Bruder soll sie bei der Leiche gefunden haben (wobei vorher schon Fassungen aus dem Gefängnis geschmuggelt worden waren). Die Sonette lassen durchaus die Situation des Gefängnisinsassen anklingen, berühren aber auch allgemein philosophische Themen oder Erfahrungen Haushofers aus seinen vielen Reisen in ferne Weltgegenden.

Insgesamt hat wohl die furchtbare existenzielle Bedrohung Haushofers tiefe poetische Energien freigesetzt so dass in seinen letzten Monaten eine Sammlung von Sonetten entstanden ist, die sich in Sprachschönheit und Gedankentiefe mit den besten Werken anderer Lyriker messen kann. Gleichzeitig ist es eines der letzten Zeugnisse einer (weitgehend) untergegangenen literarischen Epoche.

LG!

S.

Nachtrag: Und auch nochmal zu Kramer - das ist wirklich schön, dass Dich seine Dichtungen zu (kritischem) Interesse begeistern können, eKy! Die Wortwiederholungen fallen mir auch immer wieder auf und auch dass, was Du mit "handfest" und geerdet beschreibst, finde ich so in seinen Versen.
Was ich bei ihm immer bewundere, ist die Sanglichkeit seiner Dichtung. Kramer schreibt ja oft in einem nicht ganz regelmäßigen Metrum, typisch sind von locker eingestreuten daktylischen Elementen durchsetzte Jamben, so dass man beim Lesen manchmal ein zweites Mal ansetzen muss, bis man den Sound raus hat. Aber dann ergibt sich beim nochmaligen Lesen ein wunderbarer liedhafter "Flow".
Das andere hervorzuhebende Element bei Kramer ist sein überaus reichhaltiges Vokabular, das ich total bewundere. :)
Und der letzte Aspekt, der mir auffällt, ist Kramers Kunst der Inversion. Oft gilt eine Inversion ja als ein ungeschicktes Mittel von minderbemittelten Pseudopoeten, einen Satz so hinzubiegen, dass das Metrum "stimmt", aber so einfach kann man das m. E. nicht abtun. Tatsächlich gibt es Inversionen, die einen Satz zwar etwas ungewöhnlich klingen lassen, die aber zugleich eine sprachlich veredelnde Wirkung besitzen. Fälle der letzteren Art gibt es bei Kramer besonders häufig und sie sind eine ganz eigene Betrachtung wert. :)
« Letzte Änderung: Januar 07, 2021, 12:09:47 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #3 am: Januar 07, 2021, 13:28:49 »
Lieber Sufnus,


ich freue mich sehr, von Dir mit einem Lesevorschlag bedacht worden zu sein. Das Buch werde ich mir in der lokalen Buchhandlung besorgen, sobald sie wieder öffnen darf. Aktuell lese ich "The wild Iris" von Louise Glück (verlegt von HarperCollins).


Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #4 am: Januar 07, 2021, 20:51:31 »
Liebe AL!
Wie schön - Louise Glück! Da war ich dann mit Lisel Mueller gar nicht so weitab! :) Lisel Mueller ist in Deutschland sträflich unbekannt (gut... das gilt für 99,9% aller Lyriker). Als gebürtige Hamburgerin ist Lisel vor den Nazis in die USA geflohen und wurde dort - angeregt von dem Bedürfnis, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten, zur Lyrikerin und zwar von Anfang an, als non-native Speaker, auf Englisch. 1997 erhielt sie den Pulitzer Price für Dichtung. Sie starb mit 96 im letzten Jahr.
LG!
S.

hans beislschmidt

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #5 am: Januar 09, 2021, 16:58:13 »
Mein lieber Suf,
Andreas Reimann (musste ich erst mal googeln) findest du passend für mich? Ich weiß nicht, ob ich renitent genug wäre um für meine Meinung in den Knast zu gehen aber ich bin ja im Westen aufgewachsen. Respekt, dass er sich nicht hat verbiegen lasse, außerdem hat er mit Stefan Krawcik gearbeitet, der drei mal auf meiner Bühne stand.

Ich werde bei nächster Gelegenheit mal im Buchlädchen nachfragen.
Meine Dichter kann ich mit einer Hand auflisten. Ich schaffe es kaum die hier hier Anwesenden alle zu lesen. ;D
Schönen Dank für diese Idee. Gruß vom Hans
« Letzte Änderung: Januar 09, 2021, 17:05:30 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #6 am: Januar 13, 2021, 17:16:49 »
Hi Hans!
Ja irgendwie find ich, dass der Reimann'sche Ansatz zur Lyrik ganz gut zu Dir passt - dass es um eine einzige Ecke herum eine Verbindung von Dir zu Reimann gibt, ist mal wieder eine schöne Bestätigung des small world-Phänomens. :)
Reimanns Lyrik ist ganz überwiegend dem Reim verpflichtet und im großen und ganzen eher traditionell gehalten, wobei er einen allzu "hohen Ton" eher vermeidet und z. B. metrische Aufrauhungen oder saloppe Ausdrücke in seine Verse einbaut, um Blickkontakt zu einem "nicht-pontifikalen" Sprechen zu behalten und seine Verse zu "erden". Anders als z. B. bei Peter Maiwald, der sich insgesamt um einen einfacheren schmucklosen Ton bei Erhalt der Form und hoher Sprachmusikalität bemüht, ist das Reimann'sche Dichten von einem Neben einander von gehobener Rede und einfachem Sprechen gekennzeichnet, dadurch wirkt für mich seine Lyrik kontrastreich und lebendig, dabei im Klang und der Rhythmik ein wenig spröde, aber auch sehr nahbar. :)
LG!
S.

Sufnus

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #7 am: Januar 15, 2021, 12:36:00 »
Ich lüpfe mal den Faden, da ich im Eingangs-Posting eine Ergänzung vorgenommen habe... :) Unsere Ylva, die sich tatendrangerfüllt wieder zurückgemeldet hat, soll natürlich auch nicht ohne Lesetipp bleiben... :)
LG!
S.

Rocco

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #8 am: Januar 15, 2021, 20:23:24 »
Guten Abend, Sufnus!

Luidl kenne ich nicht, werde mir aber sein Buch durchlesen, mal sehen, was es mir bringt.

Ich selbst habe viel gelernt bei Rose Ausländer. Mein erster Leseeindruck war aber negativ. Sie kam mir "verrückt" vor. Das lag aber an ihrer Kunst, Sprache zu verdichten. Etwas, was du, Sufnus, auch beherrschst.

Du wirst aber ihre Bücher kennen? Wenn nicht, empfehle ich: Gelassen atmet der Tag.

Ihre ersten Bücher sind (mir) zu esoterisch, später hat sie verständlicher gedichtet.

Übrigens: ein Grund, warum ich Celan meide, ist, seine Sprache. Ich verstehe sie nicht. Und wenn ich mehr über eine Sprache, als über den Inhalt, nachdenken muss, habe ich keine Lust mehr.

Rose Ausländer, zum Abschluss, hatte ein gutes Auge für das Wechselspiel zwischen Inhalt und Form. Die Form passt wie ein elegantes Kleidungsstück zum jeweiligen Inhalt.

Dir einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Lyriklesetipps :)
« Antwort #9 am: Januar 17, 2021, 21:45:11 »
Hallo Rocco!
Ich hoffe, Luidls Lyrik inspiriert Dich - er ist wohl in der Liste meiner Empfehlungen einer der unbekanntesten Autoren, selbst Insidern (noch) kein Begriff, aber ich halte ihn für einen hochbedeutenden Außenseiter der deutschen Lyrik. :) Ich finde seine Gedicht haben ein bisschen was Japanisches an sich - sie wirken auf mich mit leichter Hand hingetupft und nicht "bis zum Rand ausgemalt", sondern Raum lassend. :)
Und bei Rose Ausländer haben wir schon einmal eine großen geschmackliche Überlappung! Ich mag ihre Lyrik sehr! :) Gerade ihre späteren Werke (also diejenigen nach ihrer Jugendzeit). :)
Dass Celan etwas Schwierigkeiten bereitet, kann ich sehr gut nachvollziehen. Seine Todesfuge war meine erste Begegnung mit moderner Lyrik und zwar zunächst, ohne jede Erklärung, als Tondokument einer Lesung des Dichters in einer Deutschstunde (ich war beeindruckt, aber verstand nur Bahnhof) und dann mit Erklärung, "was der Autor damit sagen will".
Letztlich war dieser Erstkontakt mit moderner Lyrik etwas zwiespältig in seiner Auswirkung auf mein Lyrikverständnis, da die Todesfuge eigentlich in einer etwas eigenwilligen Zwischenstellung zwischen hermetischen (also einem herkömmlichen Verständnis entzogenen) Werken und "Klartext"-Lyrik steht. Bis auf die "schwarze Milch" und (mit Einschränkung) den Mann, der mit den Schlangen spielt, sind die Bilder der Todesfuge weitgehend decodierbar, was darin begründet ist, dass die Bilder dieses Gedichts eigentlich von dem Gedicht eines anderen ("herkömmlicher" schreibenden) Lyrikers entliehen wurden (mit dessen stillschweigendem Einverständnis), nämlich dem Gedicht "Er" des Autors Immanuel Weissglas.
Die "typischeren" Gedichte Celans sind hingegen nicht in einen Klartext entzifferbar, sondern bleiben versiegelt und entziehen sich einem verstandesmäßigen Zugang. Diese "Kränkung" eines nach Verständnis suchenden Zugangs ist nicht für jeden Leser "hinnehmbar". :)
LG!
S.