Autor Thema: Selbstgespräch  (Gelesen 1315 mal)

Sufnus

Selbstgespräch
« am: Oktober 19, 2018, 22:55:53 »
Selbstgespräch

"Je est un autre" (Arthur Rimbaud)

Ich ist ein andrer, mach ich mich glauben,
ich ist ein andrer, sage ich mir,
mich meines ichs durch mich zu berauben,
bis ich mein ich als den anderen spür.

Ich ist ein andrer: Neuschnee und Weite,
hinter dem Ichnebel freiere Sicht,
eine noch unbeschriebene Seite:
Ich ist ein andrer, denn ich bin es nicht.

Agneta

  • Gast
Re: Selbstgespräch
« Antwort #1 am: Oktober 20, 2018, 11:09:57 »
Lieber Sufnus,
ein ganz exponiertes Werk, im Gedanken von Rimbaud, den ich sehr mag. Auch ich habe diesen Gedanken schon verdichtet, dass wir ein Ich haben, mit dem es sich manchmal nicht gut umgehen lässt, weil ein ganz anderes Ich uns
entweder vorschwebt, das wir sein möchten ( Unsere Präsentation nach außen hin)
oder wir "zwei Seelen, ach in unsrer Brust spüren.
Möglich wöre auch ein aufgepresstes Ich, aufgezwungen von Eltern und Gesellschaft, das wir nicht sein möchten oder
 ein Täter, der mit seiner Tat nicht klar kommt und denkt: Das kann ich nicht gewesen sein. Meine jetzt nicht unbedingt ein Verbrechen, sondern die vielen kleinen Dinge, die wir manchmal tun, ohne die Folgen für den anderen zu bedenken.
Kann man stundenlang drüber philosophieren.
Gefälllt mir sehr gut, dein Gedicht.
TiPP: da fhelt sien selbst metrisch:
mich meines ichs durch mich selbst zu berauben.
LG von Agneta
« Letzte Änderung: Oktober 20, 2018, 11:12:10 von Agneta »

gummibaum

Re: Selbstgespräch
« Antwort #2 am: Oktober 20, 2018, 11:57:11 »
Lieber Sufnus,

du beschreibst ein Gefühl, dass ich auch kenne. Ich würde ihm etwas längere Verse schenken, z. B.: 

Ich bin nicht ich, so mache ich mich glauben,
ich bin ein anderer, so sag ich mir,
und will mich meines Ichs so lang berauben,
bis ich den anderen als meines spür.

Der andre scheint mir Neuschnee oder Weite,
die hinter mir sich auftut, freie Sicht,
ganz unbeschrieben, eine weiße Seite,
und was ich jetzt sein muss, das eben nicht...


Ich wünsche dir einen schönen Tag.

Liebe Grüße von
gummibaum


Agneta

  • Gast
Re: Selbstgespräch
« Antwort #3 am: Oktober 20, 2018, 17:21:31 »

Habe nach dem Kommi von Gum noch mal draufgeschaut . Die Metrik soll betont anfangen  und wie einen Bruch in der Mitte haben, so denke ich den Bruch der beiden ichs symbolisieren und stilmäßig rüber bringen. Gum schlägt einen durchgehenden Daktylus vor, der mir aber hier beinah zu regelmäßig ist.
Ich würde die Trennung so stehen lassen, aber richtig im Daktylus je in den ersten beiden Zeilen ausführen. Dann kommt auch die Verkürzung bei andrer weg. Die beiden anderen Zeilen würde ich im durchgängigen Daktylus schreiben.


Ich ist ein anderer/ mach ich mich glaubeni
Selbstgespräch

"Je est un autre" (Arthur Rimbaud)

Ich ist ein anderer/, mach ich mich glauben,
ich ist ein anderer/, sage ich mir,
hier zwei separate 2 Heber Daktylen
mich meines ichs durch mich selbst zu berauben,
bis ich mein ich als den anderen spür.

Ich ist ein anderer/: Neuschnee und Weite,
hinter dem Ichnebel /freiere Sicht,
eine wie nackt, nicht beschriebene Seite:
Ich ist ein andrer, denn ich bin es nicht.

LG von Agneta
« Letzte Änderung: Oktober 20, 2018, 17:24:36 von Agneta »

Sufnus

Re: Selbstgespräch
« Antwort #4 am: Oktober 21, 2018, 13:06:24 »
Vielen Dank, gummibaum & Agneta für Eure Zeilen!
Ich muss sagen, ich bin ob Agnetas Entdeckung, dass die Zäsuren mit dem zerrissenen Ich korrespondieren höchst erfreut und baff... Du hast natürlich vollkommen recht, Agneta, und es war von mir vollkommen unbeabsichtigt... blindes Huhn => Korn  8)
Über Eure metrischen Anregungen denke ich heute in Ruhe bei Sonntagskaffee und Kuchen nach. :)

Erich Kykal

Re: Selbstgespräch
« Antwort #5 am: Oktober 21, 2018, 14:56:22 »
Hi Suf!

Mit des blinden Huhnes Korn hat das nichts zu tun, lieber Sufnus! Es ist nur eben so, dass gute Dichter sich der Mittel der Sprache intuitiv so bedienen, um beabsichtigte Aussagen mit möglichst deutlichen Effekten zu untermalen. Wir wählen Rhythmus, Sprachmelodie und Wortklang fast automatisch entsprechend der zu suggerierenden Stimmung, oft ohne dass es uns dabei bewusst wird. (Passiert mir selbst ständig ... deshalb muss ich wohl auch ein "guter Dichter" sein, oder!?  ;))

Ich ist ein andrer, mach ich mich glauben,
ich ist ein andrer, sage ich mir,
mich meines ichs durch mich zu berauben, Das "Ichs" hier bitte groß. Der Satz ist übrigens unvollständig konstruiert.
bis ich mein ich als den anderen spür.

Ich ist ein andrer: Neuschnee und Weite,
hinter dem Ichnebel freiere Sicht,
eine noch unbeschriebene Seite:
Ich ist ein andrer, denn ich bin es nicht.

XxxXxXxxXx
XxxXxXxxX
XxxXxXxxXx
XxxXxxXxxX

XxxXxXxxXx
XxxXxxXxxX
XxxXxXxxXx
XxxXxxXxxX

Ich habe die Abweichung zwischen den Str. hervorgehoben. Diese ließe sich in S1 beheben durch: "ich bin ein anderer, sage ich mir" oder "ich bin ein andrer, das (oder: so) sage ich mir," (XxxXxxXxxX)

Das Werk geriete natürlich flüssiger, wenn das mittige einzelne "x" in jeweils Z1 und 3 der Str. ebenfalls dem sonstigen Takt als "xx" folgen würde:

Ich ist ein anderer, mach ich mich glauben,
ich ist ein andrer, so sage ich mir,
muss meines Ichs durch mich selbst mich berauben,
bis ich mein ich als den anderen spür.

Ich ist ein anderer: Neuschnee und Weite,
hinter dem Ichnebel freiere Sicht,
eine noch ganz unbeschriebene Seite: (oder, klanglich runder: eine noch niemals gelesene Seite)
Ich ist ein andrer, denn ich bin es nicht.

Ich habe mir auch erlaubt, die Konstruktion von S1Z3 zu berichtigen. Statt des "muss" könnte man auch ein "will" setzen.


Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Selbstgespräch
« Antwort #6 am: Oktober 22, 2018, 16:11:48 »
Also die Entscheidung für eine mehr oder weniger letzte Endfassung fällt mir gerade schwer... ganz schön knifflig... viel kniffliger als die Einschätzung von eKys Dichtungskompetenz... natürlich bist Du "ein guter" (Understatement!!!!) Dichter! :) Wenn wir Dich nicht hätten...