Autor Thema: Erlkönig  (Gelesen 4520 mal)

gummibaum

Erlkönig
« am: September 28, 2018, 16:41:26 »
Als Reitpferd trab ich durch den Wind
der Nacht und trage Herr und Kind
zu dunklen Häusern, schwachem Glimmen.
Am Wegesrand sind Geisterstimmen.

Ein König schwebt ins Nebelland,
zeigt eine Beule im Gewand
und spricht erregt und winkt dem Knaben.
Er will den Kleinen bei sich haben.

Der Knabe, ängstlich, redet nicht,
verbirgt, so scheint mir, sein Gesicht.
Doch soll das Kind wohl nichts begreifen.
Der Vater spricht von Nebelstreifen.

Der König grinst aus dem Gebüsch
und schimmert wie ein nackter Fisch.   
Er säuselt immerfort:  „Zum Lohne
bekommst du, Schätzchen, auch die Krone.“ 

Das Kind bestürmt den Vater jetzt:
„Ein Erlenkönig!“, und entsetzt 
vibriert die Stimme. Doch sein Retter
sagt unbedarft: „Es rascheln Blätter.“

Ganz dicht bei mir, schon vor dem Huf,
erscheint der Geile, lockt sein Ruf:
„Auch meine Mutter will dich wiegen,
und bei den Töchtern darfst du liegen!“

Das Kind ruft völlig außer sich:
„Dort tanzen sie, beschütze mich!“
Der Vater tröstet nochmals lau:
„Mein Sohn, die Weide biegt sich grau.“

Der Lüsterne verliert den Halt
und nimmt den Knaben mit Gewalt.
Ein weher Schrei, ein kleines Wanken  -
Dann spür ich Sporen in den Flanken.

Ich jag dahin, halt irgendwann
erschöpft in einem Hofe an. 
Mein Herr steigt ab, und sieht ein wenig
so aus wie der verliebte König.

Und wird zum Bettler durch die Not,
auf der er ritt… Sein Kind ist tot…


(nach Goethes Ballade)

« Letzte Änderung: Oktober 13, 2020, 17:03:02 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Erlkönig
« Antwort #1 am: September 29, 2018, 12:55:15 »
Hi Gum!

Erneut ein Perspektivverschiebungsgedicht - das Pferd des Vaters spricht.

Was im originalen "Erlkönig" nur sacht angedeutet war (ja eigentlich sogar einzig der Deutungshoheit des Lesers überlassen blieb), wird in deiner Version allerdings sehr drastisch verdeutlicht: Die triebgesteuerte Jagd eines Päderasten nach seinem Opfer sowie die Blindheit des Erziehungsberechtigten, der leugnet, bis es zu spät ist.

Das macht es schwer zu kommentieren, da es so grausam ist und mit der Vergewaltigung und Ermordung des Kindes endet! Wie findet man da die richtigen Worte? Kann, soll, will man so ein Werk loben? - Ich sage: Ja, man muss sogar! Nicht schon wieder wegschauen! Nicht sogar hier das Übel aus der Welt leugnen, weil es so unerträglich ist, dass man sich damit nicht beschäftigen möchte!

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 01, 2018, 17:53:36 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Erlkönig
« Antwort #2 am: September 29, 2018, 16:48:42 »
Danke, lieber Erich,

für deinen schönen Kommentar unter dem schlimmen Gedicht. Ich habe ihn sehr gern gelesen.

LG gummbaum

cyparis

Re: Erlkönig
« Antwort #3 am: September 30, 2018, 12:39:34 »
Lieber gummibaum,

Du Meister des Perspektivwechsels, da bleibt beinahe mein Mund offenstehen!
Nicht nur, daß Du die Ballade kongruent umgesetzt hast - nein, auch die erotischen Fehldeutungen, die sie hat über sich ergehen lassen müssen, finden Raum.
Eine tolle Leistung, vor der ich mein greises Haupt neige.
Daumen hoch und Hut ab!!!

Lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

gummibaum

Re: Erlkönig
« Antwort #4 am: September 30, 2018, 16:02:14 »
Liebe Cyparis,

dein Kommentar freut mich sehr. Vielen Dank.  Bin momentan beim Hausputz, und da sind deine Worte eine sehr belebende Zwischenmahlzeit.

Alles Liebe
gummibaum

cyparis

Re: Erlkönig
« Antwort #5 am: Oktober 03, 2018, 12:58:52 »
Lieber gummibaum,

Hausputz?
Findet der nicht kurz vor Ostern statt?
Bist Du nun zu früh oder zu spät? ;D

Lieben Sonntagsgruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Agneta

  • Gast
Re: Erlkönig
« Antwort #6 am: Oktober 16, 2018, 18:42:50 »
Respekt, lieber Gum, Respekt. Ich musste sofort an die Windungen der katholischen Kirche denken, die aufarbeiten wollen ohne aufzuarbeiten.
Viele Kinder sterben, wenn auch nicht körperlich und doch seelisch nach so einer Tat. Wobei es eigentlich zwei Verbrecher sind; der eigentliche Täter und die Eltern, die wegschauen.
Tausendmal habe ich mich gefragt, warum sie wohl wegschauen. Es muss das sein, was du in den phlegmatischen Äuserungen des Vaters im Gedicht verdeutlichst, Hilflosigkeit gegenüber einer Macht, einer anerkannten Person, eines gesellschaftlichen Kodexes (König, Pfaffe, Arzt, Trainer ect.).

Mein Vater verbot mir schon als kleines Kind, einen Knicks zu machen. Er sagte: Du musst vor niemandem knicksen, bist doch kein Diener. Das war verdammt selten in den Ende Fünfigern, wo kleine Mädchen brav im rosa Tüttü im Wortlosen verschwanden.

MIR wäre das bei mir selbst und auch bei bei meinem eigenen Kind auf Grund dieser Erziehung also nicht passiert. Bei mir hätte keine Linde geweht, ich hätte sie einen Kopf kürzer gemacht. Und mein Vater hätte wohl gleich den ganzen Waldabgesägt...GGG
Hierzu aber braucht es Eltern, die bedingungs-und furchtlos zu ihren Kindern stehen, ohne Standesdünkel anuerkennen.

Das Pferd, das selbst in Abhängigkeit steht, hat hier hier die Funktion des alten griechischen Chors, der mahnt und die Wahrheit offenlegt.
Richtig gut gemacht, das Werk und ja, wie Erich schon sagt: Wichtig! Man kann da nicht oft und nicht radikal genug den Finger in die Wunde legen, die man den Tätern zuerst einmal beibringen muss.
Unsere Kinder, Enkel sind unsere Schätze und wir müssen sie behüten.

Klasse Werk.
LG von Agneta

gummibaum

Re: Erlkönig
« Antwort #7 am: Oktober 18, 2018, 23:11:30 »
Danke, liebe Agneta,

für deinen interessanten und engagierten Kommentar. Eltern schauen nicht nur weg, sie sind zum Teil auch selbst die Täter. 

Liebe Grüße
gummibaum

cyparis

Re: Erlkönig
« Antwort #8 am: Oktober 19, 2018, 16:43:01 »
Diese Interpretation hat mir von Anfang an mißfallen.
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte