Autor Thema: Styliten  (Gelesen 1328 mal)

Erich Kykal

Styliten
« am: Juli 09, 2018, 11:54:01 »
Gewärtige den Reigen der Minuten,
wenn hohe Bilder, die den Geist bereisen,
nach Unerhörtem oder Großem weisen -
erlebe die Momente, die verbluten,

sich still verströmen über alles Wollen,
das deine Taumelseligkeit bewohnt
im festen Glauben, dass sich alles lohnt,
wenn wir nur schöpfen aus dem Übervollen.

Zutiefst Erlebtes weiß die eigne Seele
im selbst Erträumten - alles übersteigend,
was sich an Welt, Gegebenheiten neigend,

in deine abgestumpften Sinne räumt.
Styliten sind wir, die auf einer Stele
von jenem träumen, welcher alles träumt.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Styliten
« Antwort #1 am: Juli 12, 2018, 11:01:11 »
So bei Wind und Wetter auf einer Säule zu stehen, um Gott näher zu sein, könnte mir gefallen. Die wunderbarsten Haluzinationen stellen sich bald und spätestens beim Blitzschlag ein.

Sehr gern gelesen, lieber Erich.

LG g
« Letzte Änderung: Juli 12, 2018, 14:51:13 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Styliten
« Antwort #2 am: Juli 12, 2018, 11:11:47 »
Hi Gum!

Das Bild des Säulenheiligen steht hier für unseren Hang zur Weltausgrenzung, vor allem wenn gewisse Aspekte der Realität uns nicht passen wollen. Dann biegen wir uns die "Wirklichkeit" (eigentlich nur das, was wir als solche bezeichen) unserer durch Kultur, Normen, Dogmen und Beschränkungen der Sinne eingeengten Welt gern so hin, wie wir es haben möchten, um gewisse "Wahrheiten" zu stützen und zu schützen, die für die Erhaltung unserer Subjektivität unabdingbar sind.
Da sind wir sehr anpassungsfähig, aber letztlich eben - wie die Styliten - höchst begrenzte Existenzen, die ihre Welt hauptsächlich nach innen bauen, um sich mit dem Äußeren (dem wirklich Wirklichen, Objektiven) nicht auseinandersetzen zu müssen.

Das war der Gedanke hinter diesen Zeilen.

Wir sind immer Spiegel unserer Kultur, und jede Kultur definiert sich in ethischen, moralischen oder religös indoktrinativen Grundsätzen, sog. Dogmen, die eine bestimmte Auffassung von Gesellschaft und Zusammenleben definieren.

Ein Beispiel: Ein Forscher des 19. Jhdts (Name tut nichts zur Sache) erboste sich in seinem Bericht über das "tierische" Verhalten eines Eingeborenenstammes, im Beisein ihrer Kinder Sex zu haben: Sie völlzögen den ehelichen Beischlaf, während ihre Kinder daneben lägen, noch nicht einmal schlafend. Diesen "offenkundigen Mangel an guten Sitten" nahm er als Beweis für ihre geistige Primitivität und empfahl die raschest mögliche Entsendung von Missionaren.

Er dachte natürlich nicht daran, dass es in Europa noch vor ein paar hundert Jahren nicht anders gewesen war: Eigene Räume für Kinder oder Gesinde waren Luxus für Herrscher und die wenigen Reichen! Für alle anderen galt: Mit Familie und Vieh in einem Raum zu schlafen, schon um Heizmaterial zu sparen!
Die einfachen Hütten der Ureuropäer hatten keine Unterteilungen. Die Wikinger lebten in Langhäusern, mehrere Familien zusammen. An Königshöfen war es bis ins Frühmittelalter sogar selbstverständlich, dass der König sein "Geschäft" öffentlich, im Beisein des Hofstaates, verrichtete. Selbst der Sonnenkönig Ludwig der Vierzehnte tat dies noch, um "verdienten Höflingen" die Ehre zukommen zulassen, ihm beim Essen und später beim Scheißen zusehen zu dürfen!
Und NATÜRLICH hatten die Lebenspartner ganz NATÜRLICH Sex im Beisein ihrer Kinder, die auch gar nichts daran fanden - für sie war es nur der Beweis, dass ihre Eltern sich noch lieb hatten. Es störte sie weder beim Einschlafen noch hinsichtlich "sittlicher" Belange. Was selbstverständlich ist, weil man damit aufwächst, ist eben kein Pfuibäh.

Aber ich schweife ab.

Worauf ich hinaus will: wir definieren uns über das, womit wir aufwachsen. Mit einer objektivierbaren Realität hat das oft genug nichts zu tun (siehe zB. religiöse Regeln und Rituale aller Art, sinnlose Verrichtungen, die nur sozialen Kitt darstellen, Selbstdefinition unterstützen usw ...), wir bauen unsere "Welten" mehr nach innen als in die Wirklichkeit hinein.
Wir jagen lebenslänglich das weiße Kaninchen unserer Vostellungswelten - wie anders wäre ein so selbstverleugnender, ja krankhaft weltverleugnender Lebensstil wie der eines Eremiten oder gar Styliten sonst überhaupt denkbar oder für denjenigen erträglich?

Nicht die tatsächliche Faktenlage des Universums definiert uns - nein, es sind unsere Innenwelten. Das wirklich Existente wird, wenn passend, nahtlos eingefügt, wenn nicht passend, eben passend gemacht durch Verleugnung, Fehlinformation, Umdeutung, Zwangsdoktrin usw ... Das findet in einzelnen Köpfen statt wie auch in ganzen Gesellschaften. Beispiel: Wenn man einst behauptete, die Erde wäre NICHT das Zenrum des Universums, widersprach man der "göttlichen" Ordnung und riskierte eine Lebendfeuerbestattung!
Selbst als der Beweis längst erbracht war, dass die Erde nicht das gottgewollte Zentrum aller Dinge war, widerstrebten viele noch jahrzehntelang (oder länger) dieser Vorstellung und taten alles, um ihre "Wirklichkeit" durch Rufmord an den geistigen Widersachern wieder herzustellen.
Oder die Erklärung der bibeltreuen amerikanischen Erzchristen unserer Tage (für die Welt ja nicht älter sein kann als so um die 6000 Jahre - laut Bibel!) für versteinerte Dinosaurierknochen: Gott habe den Stein so geformt, um "die Gläubigen so zu prüfen"! Niedlich.

In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder diese Stelle aus Goethe's Faust ein, wo der von Faust beschworene Geist der Natur diesem eröffnet, dass er ihn niemals würde erfassen können, ihm niemals gleich sein könne. Faust ruft verzweifelt: "Nicht gleichen? Ich, Ebenbild Gottes, und nicht einmal dir!?" - und der Geist antwortet: "Du gleichst dem Geist, den du begreifst - nicht mir."
Selten steckte je so viel Weisheit in so wenigen Worten ...

So leben wir eben - als einzelne Menschen oder ganze Kulturen - auf unseren sebstgemauerten Säulen und starren freiwillig blind in die ferne Welt - nur dem inneren Weltbild verschworen, einer selbsterdachten Vaterfigur willig dienen wollend oder nur dem, von dessen Richtigkeit wir überzeugt sein möchten, selbst- und realitätsverleugnend, weil gelten muss, was gelten soll. Selbstauferlegte unvernünftige Beschränkungen scheinen wir zu brauchen, um funktionieren zu können. So sind die Menschen, und mein Gedicht sollte diesen Wesenszug vermittels des Stylitenbildes erfassen.

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 26, 2021, 11:36:54 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Styliten
« Antwort #3 am: Juli 12, 2018, 15:34:07 »
Danke, lieber Erich,

für deine weitgespannten Gedanken. Es gibt eben einseitige und vielschichte Weltbilder. Objektive Realität dagegen nicht.

Gern gelesen.

LG gummibaum







 

Erich Kykal

Re: Styliten
« Antwort #4 am: Juli 14, 2018, 19:24:27 »
Hi Gum!

Ja - Objektivität ist eine Illusion. Man müsste immer sagen: objektiv im engen Rahmen unserer Sinneserfassung und zerebralen Kompetenz. Wär aber zu sperrig und unangenehm selbstkritisch - daher eben immer dieser Anspruch ans Absolute, ob in Religion oder Naturwissenschaft.

Hybris ist nur ein Symptom der eigenen Begrenztheit.  ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Styliten
« Antwort #5 am: Juli 22, 2018, 14:19:55 »
Hi Gum!

Ja - Objektivität ist eine Illusion. Man müsste immer sagen: objektiv im engen Rahmen unserer Sinneserfassung und zerebralen Kompetenz. Wär aber zu sperrig und unangenehm selbstkritisch - daher eben immer dieser Anspruch ans Absolute, ob in Religion oder Naturwissenschaft.

Hybris ist nur ein Symptom der eigenen Begrenztheit;)

LG, eKy

Als Symptom würde ich es nicht bezeichnen. Viel eher als Manko, das Fehlen der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit.
Mitscherlich hat es (in Bezug auf die positive oder negative Selbstsicht) "Das Ich und die Vielen" genannt.

Aber ob Eremit, Papst, Fakir, Stylit oder Cary Grant:
Zu einer endgültigen Lösung ihrer Bemühungen sind sie alle nicht gelangt.

Anmerkungen einer von psychologischer Kenntnis nicht beleckten Leserin. ;)

Zum Glück verfüge ich sowohl über ein gerüttelt Maß an hedonistischer Emotionsregulation als auch über einen gewissen Kohärenzsinn.
(Beide Begriffe hab ich heute in meinem Magazin entdeckt. ;))

Sonntäglichen Gruß
von
Cypi


Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Styliten
« Antwort #6 am: Juli 22, 2018, 16:16:40 »
Hi Cypi!

Ich fürchte, du hast nicht ganz verstanden, was ich sagen wollte.

Hybris ist das Gefühl, anderen überlegen zu sein, Selbstgefälligkeit, herablassende Arroganz, übersteigerter Selbstwert usw. - wer sich mit derlei trägt, zeigt damit nur seine charakterlichen und geistigen Defizite, denn der Kluge weiß um seine Begrenztheit und die seiner Sinne. Nur der Dumme und/oder Unreife strebt nach elitärer Überlegenheit oder hält sie für real.

Unsere Sinne, unsere Wahrnehmung der Welt sind sehr eng und begrenzt, physisch wie psychisch und intellektuell. Anzunehmen, wir wären im Besitz der Ultima Ratio, ist also nichts anderes als Hybris - ein Symptom der eigenen Begrenztheit, jener seiner Sinne und jener seines Geistes!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.