Aus dem Fundus: Es handelt sich um das erste Drittel oder Viertel einer Geschichte, die 10jähriges Jubiläum feiert.
Der Winter war erlahmt in sein langes matschiges Ende übergegangen. Schneereste dämmerten schwärzlich am Straßenrand. Aufgedunsene Flocken fielen jetzt wie weiche Steine und starben am Boden. Salzwasser schwamm grießig in den blicklosen Pfützen. Entfernter im Acker staken die Wolken fest. Der Himmel war heruntergefallen und kam seit Tagen nicht wieder hoch.
Diese Depression zerbröselte mir die Knochen. Ich nahm die Lesebrille ärgerlich ab und stieß mich, in Mantel und Schal vermummt, angeekelt vor die Tür. Ich brauchte dringend Licht. Die Dorfstraße war trüb und leer, bläulicher Fernsehschimmer flackerte in den Fenstern. Ich streifte lange in den verwahrlosten Feldern herum um irgendwo die erdrosselte Sonne liegen zu sehen. Die Wege waren allesamt tot gefault und schmierig, meine Hose und Schuhe starrten vor Dreck, das Weitergehen erschien mir nur sinnlos. Der Horizont blieb stoisch blind. Der Rückweg war lähmend und bleiern.
Mein Ofen war bis auf einen letzten Glutrest schwarz. Ich warf zerknüllte Zeitungen hinein, doch quoll nur ein erstickender Rauch auf. Kopfschüttelnd riss ich, mechanisch in meiner Resignation, noch einige Seiten aus einem alten Reiseprospekt, als plötzlich die Flamme doch in die Höhe schnellte und augenblicklich den Qualm in den Kamin hinaufschob. Ich nährte das Feuer ermutigt mit kräftigeren Scheiten und genoss, wie ein warmes reges Licht sich im Zimmer ausbreitete. Ich setzte mich endlich an den Tisch und sog die frische Wärme ein. Da bemerkte ich, dass ich die schräg abgerissenen bunten Prospektseiten noch immer in der Hand hielt. Sie wegzuwerfen hätte bedeutet jetzt gegen die Schwerkraft der Seele noch einmal aufzustehen. Und war das nötig? Ich las: „Genieße das Leben. Karibik.“.
Ein Foto zeigte das blaue Meer. Ich sah den Strand, sah das Sonnenlicht fluten, entdeckte die Palmen und die Hotels. Ich fühlte mich plötzlich schwerelos. Eine Brise kam spielerisch vom Ozean her und trug seine erhabene Weite in mein Zimmer. Der Schrei der Seevögel war ganz nah und ich merkte wie sich mein Teppich ganz leicht unter meinen Füßen kräuselte. Liegestühle standen vor mir, rosa und violett im weißen Sand, die Sonnenschirme aus Schilf verbreiteten wohltuend Schatten. Und im Meer kreuzten Segelboote in weißer Gischt. Ich hatte die Beine hochgelegt, bewegte die Zehen, zog nacheinander erst den Pullover, dann Hemd und Unterhemd aus. Ich hob die befreiten Arme und winkte dem Kellner, der biegsam näher kam und meine Wünsche mit einem leichten Kopfschwung quittierte.
Hinter meiner Zimmerpalme, die unbemerkt zu wachsen schien, war plötzlich ein junges Paar aufgetaucht, dass in Badekleidung den Strand entlang im knöcheltiefen hellen Wasser schlenderte. Sie waren beide schlank und braun und hatten sich bei den Händen gefasst. Sie schienen durch einen einzigen Pulsschlag verbunden. Die weibliche kleine Gestalt hob eben ihren Blick in die Bucht hinaus und schien etwas Freundliches anzulocken. Ihr Partner sah sie teilnehmend an und begleitete jede ihrer Mienen. Ja, dieser Mann, muskulös und strahlend, ein offener Typ und doch zärtlich verträumt, den kannte ich irgendwo her. Und wie die beiden an mir vorübergingen, stand ich doch auf, ließ meinen Eisbecher stehen und ging ihnen nach, an den Klippen entlang und vorbei noch an den Yachten und trat, als er vom Wasser abbog heimlich in seine Spuren. Wie tat der warme Sand meinen nackten Füßen gut und wahrhaftig, sie füllten die Abdrücke haargenau aus. Noch einige Schritte, da hatte ich ihn endlich eingeholt und seltsam, unsere Schatten im Sand verschmolzen. Ich fühlte jetzt nur noch die Wärme der kleinen Hand in der meinen. Und da wusste ich auch den Namen wieder. Und ich fühlte ihren und meinen Puls. Und so zogen wir lautlos immer weiter.
Wir waren an einem alten halb verfallenen Ruderkahn angekommen, der auf einem einsamen Strandstreifen lag. Unsere Schritte waren langsamer geworden und wie wir um das Boot herumgingen und das morsche Holz und die zerfaserten Ruder betrachteten, schlüpfte plötzlich ein kleiner einheimischer Junge unter dem Kahn hervor. Er mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, blieb aber ganz natürlich stehen, hielt seinen hellen, breitkrempigen Strohhut mit der rechten Hand schräg auf seinem Kopf fest und lachte uns mit weißen Zähnen und glänzenden Augen an. „Senora, Senor“ sagte er und deutete in den Kahn und lachte wieder. Ich wollte ein bisschen mitspielen und setzte einen Fuß über die flache Bordwand und du stiegst einfach mit hinein. So setzten wir uns für ihn auf der alten Ruderbank in Pose und lachten freundlich zurück. In seiner Miene war jetzt fast ein bisschen Unglauben, aber wie wir ihm zuliebe doch noch weiter sitzen blieben, trat er hinter das Boot, stemmte seine kleinen Arme dagegen und unglaublich, das Boot bewegte sich jetzt und glitt ins Wasser. Ich wollte aufspringen, blieb aber doch sitzen, sah dich an, sah, wie du zum Ufer zurück winktest, sah, wie der Junge kleiner wurde und fühlte, wie uns die erste Welle hob und unendlich sanft mit hinauszog.
Die Palmen blieben zurück, hochstämmig, als grüner Saum hinter dem Strand, und sie warfen uns, vom Wind gezaust und dem Meer entgegen gebeugt, tausendfingrig aus schwankenden Wedeln ihr Licht nach. Das Rauschen der Brandung verlor sich, die Dünung glitt ruhig unter uns hin. Ein stetiger Wind nahm uns mit sich und spielte vergnügt mit unseren Haaren. Türkisblau lag das Meer da, dem Ozean sich öffnend, der glänzend mit hellen Zungen die Luft erregte und unser Boot zu liebkosen schien. Wir lehnten uns sonnenwarm aneinander und ließen uns ohne Zeitgefühl treiben. Möwengruppen, weiße gefiederte Inseln, zogen vorüber und wurden wie wir im langsamen Rhythmus gewiegt. Und aus dunkler Tiefe kam silbern aufwallendend ein riesiger Schwarm winziger Fische. Du legtest den Kopf auf meine Schulter, deine schwarzen Locken flossen warm über meine Haut, ich streichelte dich mit verheißungsvollen Worten und legte Hügel und Tal für uns frei. Deine Finger umspielten jetzt leichthin meine Lippen, dein Atem sank tief in den meinen hinein und wie du mich ansahst mit feuervollen Blicken, wuchs ich dir überquellend entgegen. Ich merkte, wie die Sonne über ihre Ufer trat und alle Konturen wegschwemmte, wie die Kontinente sich schneller bewegten und ihre tektonischen Platten sich hart und durchdringend rieben. Irgendwo auf der Welt brach ein gewaltiges Seebeben los.