Autor Thema: Tsunami  (Gelesen 1200 mal)

cyparis

Tsunami
« am: Oktober 14, 2015, 08:36:08 »
oder: Die Amplitude




Aufgetriebne Leiber
zu Tausenden am Strand.
Namenlos und unerkannt.
Kein Amt und keine Schreiber.
Tsunami hat sie gleichgenannt:
Tote.
Väter, Mütter, Kinder.
Arme, Reiche, Gute, Sünder.
Tote.

Von einer Welle zuschanden geritten.
Gerissen von Dächern, von Bäumen,
von Händen. Entglitten den Träumen.
Aufgetürmte Leichen inmitten
der Trümmer.

Die Toten.

Nichts schlimmer als dieser Gestank,
die Fliegen, die Maden. Der Dreck.
Global nur ein winziger Schreck
für vier Wochen. Vorbei.

Ein Star der Szene wird magenkrank.
Da sind die Toten schon einerlei.

Die Toten.



14. Oktober 2015



Abseits der Gepflogenheit.
Im Grunde eine Replik.
« Letzte Änderung: Oktober 14, 2015, 17:51:50 von cyparis »
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Tsunami
« Antwort #1 am: Oktober 14, 2015, 11:39:52 »
Hi, Cypi!

Eine ungewöhnliche Form für dich, aber superb gewählt: Die "Wellen" des Geschriebenen respondieren optisch die Schübe des Tsunamis, wie er aufs Land brandete!

Wunderbare Lyrik ohne resolute innere Struktur, ganz dem inneren Rhythmus, der Sprachmelodie folgend, aber hier genau richtig, atmet der Text doch so die Unwägbarkeit der Natur perfekt nach, vermittelt die Angst vor der vielleicht nächsten Woge.

Sehr gelungen auch die herrlichen Binnenreime ("zuschanden geritten/inmitten - entglitten", oder "Trümmer - schlimmer")!

Ausgesprochen gern gelesen! :)

LG, eKy

PS: Ein sehr empfehlenswerter Film dazu: "The Impossible" - der Film erzählt die wahre und nur leicht dramatisierte Geschichte einer Familie, die das Unglück er- und durchlebte. Absolut sehenswert - kein üblicher Katastrophenreißer, sondern zutiefst menschlich und berührend!
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Tsunami
« Antwort #2 am: Oktober 14, 2015, 12:36:16 »
Lieber Erich,

mein Gedicht war eine impulsive Raktion auf ein unsäglich banales Gedicht.
Ich schicke Dir den Link per PN.

Über den von Dir empfohlenen Film informiere ich mich gleich!


Danke für Deinen (mir sehr wertvollen!) Kommentar


und liebe Grüße
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
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copyright auf alle Texte

gummibaum

Re: Tsunami
« Antwort #3 am: Oktober 14, 2015, 19:31:50 »
Liebe Cyparis,

ich bin, mehr noch als bei "Nymphe" bei diesem Gedicht von deiner neuen Art zu schreiben, überrascht, ja, beeindruckt. Wie Erich schon ausgeführt hat, läuft der Text über Stationen, die sich wie Wellen folgen und er kann so verzweiflungschaffende Bilder heranzoomen. Doch, in Tagesschau-Manier, werden sie unvermittelt unter der hochgepuschten Bagatellnachricht vom Magenleiden eines Stars begraben. Nachrichten gewöhnen uns durch ständigen Wechsel der Themen die Abhängigkeit von immer neuen Reizen und Sensationen an, ebnen jeden Maßstab ein und Verdrängen das Reflektieren aus den Köpfen, das Trauern und Verarbeiten aus den Herzen.

Glückwunsch zu dem Gedicht
LG gummibaum

 
« Letzte Änderung: Oktober 14, 2015, 19:33:30 von gummibaum »

Curd Belesos

Re: Tsunami
« Antwort #4 am: Oktober 14, 2015, 23:46:59 »
Glückwunsch zu dem Gedicht

dem schließe ich mich gerne und von Herzen an.

Sehr gut beschrieben.

Einen lieben Nachtgruß von Curd
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Aspasia

  • Gast
Re: Tsunami
« Antwort #5 am: Oktober 22, 2015, 22:19:58 »
oder: Die Amplitude




Von einer Welle zuschanden geritten.
Gerissen von Dächern, von Bäumen,
von Händen. Entglitten den Träumen.
Aufgetürmte Leichen inmitten
der Trümmer.




Diese mittlere Strophe ist stark. Sie schildert den Augenblick des Überlebens oder des Sterbens. Die Strophen davor und danach können natürlich nicht ebenso stark sein, denn dort herrscht Stillstand, Tod und Gestank. Ein Bild der Gescheiterten.