Liebesbrief eines bekennenden Soziopathen
über die Inflation des Wortes "Liebe"
Liebe B.!
Ich weiß nicht, wie es dir geht, allerdings hoffe ich inbrünstig, dass es mir besser geht. Im Nachfolgenden habe ich eigentlich nur über eine einzige wichtige Sache zu berichten – Gedanken hierzu schwirren mir seit Wochen durch den Kopf und es scheint mir angebracht, sie gerade
dir mitzuteilen.
Wie oft hört man doch von
Liebe! Junge Mädchen träumen sich in zuckersüße Fieberphantasien, weinerliche Herren erleichtern sich um ihren grauenvollen Herzensschmerz. Pärchen, welche in den Parks der Stadt ihr kurzweiliges Glück mit allem verliebten Pathos zur Schau stellen, schlendern verzückt umher und grinsen sich gegenseitig in ihre erröteten Gesichter. Wilde besingt die Liebe in seinen Märchen, unsere größten Dramen entspinnen sich um dieses seltsame metaphysische Etwas. Und doch will ich mich hier nicht als unsäglicher Pessimist beweisen oder mich gar als Anhänger Schopenhauers erklären! Ich will mich nicht, wie Erich Fromm, darum bemühen, in diesem Schreiben zu erklären, was denn Liebe überhaupt ist – andere Autoren mögen dem Interessierten die Antwort liefern. Worüber ich nachdachte und nun zu schreiben gedenke ist um vieles komplizierter, auf seine Weise jedoch einfacher. Ich will dir letztlich noch nicht einmal eine Abhandlung liefern – ich möchte mich schlicht und ergreifend aufregen. Du hattest mich um einen
Liebesbrief gebeten und natürlich scheint eine meiner Tiraden vollkommen unangebracht, um einem solchen Unterfangen auch nur im Entferntesten gerecht zu werden. Doch – und das ist der Ausgangspunkt meines nun folgenden Tobsuchtsanfalls – ist ebendies Unterfangen Ausdruck eines inzwischen derart verbrauchten Gebiets – die
Liebe! Oh, wie inflationär dieses Wort doch gebraucht wird, wie es mit aller Gewalt
missbraucht wurde und nun jedem Schürzenjäger, jedem billigen Schwerenöter und selbst schneidigen Männern wie
mir leichtfertig über die Lippen gleitet. Du siehst, ein Eid hat seine Bedeutung für uns unlängst verloren – und wenn selige Ärzte ihre ganz eigenen Machenschaften verfolgen können, obwohl sie unter einem heiligen – dem Hippokratischen! – Eide stehen, warum nicht auch …
wir? Nicht wahr?!
„Ich liebe dich!“ – keine größere Lüge auf dieser Erde. „Ich will bei dir sein!“ – kein falscheres Versprechen in unserer Geschichte als dieses. Die Romantik wird nun verzogen und besonders unsere jüngste Generation ergeht sich in vorschnellen und – unter uns gesagt – überaus schmierigen Liebesbekundungen. Dabei allerdings bin auch
ich nicht von dieser kitschig verblendeten Seuche verschont geblieben – man mag’s kaum glauben! Auch ich schrieb Liebesbriefe, auch ich schwärmte und natürlich versuchte ich mich in romantischer Lyrik. Besonders
du solltest darüber bescheid wissen – aber ich entsage mich dem Ganzen nun. Ich „liebe“ nicht mehr, ich „will“ bei
niemandem mehr sein und bleiben! Mein Wille lautet wie folgt: Du sollst mich nicht mehr anrufen! Du hättest keine anderen Männer neben mir haben sollen! Ich wünschte, ich dürfte töten!
Lass‘ mich bitte erklären, wie dieser Sinneswandel zustande kam…
In aller Welt verlieben sie sich, die dummen Narren und heben die gesegneten Gefühle empor um sich späterhin in weinerlicher Dramatik zu ergehen. Das eine wie das andere erscheint den erfahrenen Alten als natürlich und sie schmunzeln darüber, wie ihre Nachkommen die gleichen gelähmten Erfahrungen sammeln müssen, die sie einst verarbeiteten –
das nenne ich Schadenfreude! Jünger und jünger werden sie, die Künstlerinnen, die schwärmerisch von dem Beieinandersein sprechen, schlauer und schlauer werden sie, die jungen Herren, die mit ihren einstudierten Redewendungen auf der Lauer liegen in den Cafés, den Bars und Diskotheken. Eine Heuchelei nach der anderen! – hier wird romantisch verklärt, dort wird romantisch gelogen. Und diese widerliche Scheinheiligkeit und Zweideutigkeit zieht sich durch unsere gesamte Gesellschaft; Liebeslieder sprießen aus dem Boden, eines schlechter komponiert als das andere! Frauen weinen, sind sie am gelobten Valentinstag einsam und allein, Männer fürchten um ihre stoßende Überzeugungskraft. Der Romancier ist nun Objekt endloser Wiederholung, das Tier im Menschen ist dekadenter als die beleibten Männer, die Cäsar um sich wissen wollte! Ein Trauerspiel und es bleibt nichts anderes übrig, als schreiend davon zu laufen, um sich in der Ferne, auf dem Gipfel menschenmöglicher Überlegenheit über diese Torheit lustig zu machen.
Wo ist der Mann, der große Charmeur, der gekonnte Schwerenöter? – nicht der dumpfe, gierige Schürzenjäger. Wo ist die Frau, die verstehende Spielerin, die Göttin und Medusa zugleich? – nicht die verträumte, zeitweilig verwirrte Furie. Das Geheimnis der Erotik liegt in ihrer andeutenden Verheimlichung – wir haben längst allen Sinn für wahre Sinnlichkeit eingebüßt. Es bleibt die Inflation der Liebe – und hinter diesem Worte verbirgt sich nichts Großes mehr, allenfalls noch große Dummheit.
Es ist müßig, sich darüber aufzuregen. Ich habe meine Schlüsse gezogen. Ich verlasse dieses liederliche Treiben und wende mich der einzigen Person zu, die ich wirklich „lieben“ kann – mich selbst! In diesem Sinne strafe ich auch nun dich mit Verachtung und empfehle
mich im wahrsten Sinne des Wortes.
Überhaupt nicht der Deine,
L.