Du warst einst Feuer und Flamme
Heißes Ideal war Deine Amme
Jetzt bist Du nur noch Tradition.
Was ist das schon?
Lieber Wolfmozart,
ob das Kurzgedicht gut ist oder nicht, diese Frage kann meines Erachtens außen vor bleiben. Die Verse finden Beachtung, und das zählt. Dabei ist es vor allem der zweite Vers, der zum Innehalten und zu mehrmaligem Lesen zwingt. Die Amme ist zuerst nicht in den Zusammenhang zu bringen. Wieso die Amme? Welche Amme? Was war das Besondere an der Amme? Dann geht der Seifensieder auf: Der Vers ist eine geschickte Doppelung, denn Ideal und Amme steht hier für dasselbe, nämlich für den Nährboden hoher Werte. Wie schnell diese Nahrungsquelle versiegen kann, hast Du mit der Feststellung der Tradition getroffen.
Sehr klug auch, dass du den letzten Vers nicht als Feststellung (gar mit einem Ausrufezeichen!), sondern als Frage geschrieben hast. Er klingt zwar trotzdem auf den ersten Blick abwertend, ist es aber nicht. Es bleibt tatsächlich die Frage, ob an traditionellen Werten wirklich alles schlechter ist als an vermeintlich "neuen" Werten, die auf Experimenten beruhen, die oft - oder sogar meistens - den selbstgestellten Forderungen nicht standhalten. Der Mensch ist nun einmal ein Wesen, das ebenso wie alles andere Leben in einer begrenzten Umwelt mit begrenzten Möglichkeiten gefangen ist.
Vier knappe Zeilen - vermeintlich simpel, aber von starker Aussagekraft.
Lieben Gruß und einen schönen Restsonntag,
Aspasia