Autor Thema: Vertrieben  (Gelesen 1280 mal)

charis

  • Gast
Vertrieben
« am: Mai 03, 2015, 18:10:29 »
Im fahlen Licht die Brasserie,
die Straßen sind noch menschenleer,
der Sommer liegt in Agonie
erdrückt von Wolken regenschwer.

Ein Lied klingt leis mir durch Äonen
in Worten, die ich längst vergaß,
erzählt von Riesen und Dämonen
und Schätzen, die ich einst besaß.

Ich klammer mich an deine Hände,
dein Brief und ich im Ringelreihn.
In öden Straßen wächst das Fremde,
aus ockergelber Erde: Wein -

so süß der Duft von den Spalieren,
ein alter Baum, die Schaukel schwingt.
Wie konnte ich das Bild verlieren,
nicht hören, wie der Wind dort singt?

Die weichen Schwünge jener Weite
vor dunstverhangen Bergen - schroff
und wild - und du an meiner Seite,
ist Tag für Tag, was ich erhoff.

Der Kellner wischt die leeren Tische,
und diese Stadt wird mir so fremd.
Ich bin der Bettler in der Nische
und rieche dein verschwitztes Hemd.

Der Schmutz klebt zwischen bloßen Zehen,
du läufst mir nach, ich lache laut.
Es legt sich Staub und ich kann sehen,
wie über Nebeln Himmel blaut.

Stets war ich diesem Land verbunden
aus dem ein Dämon mich vertrieb.
Vergessen heilt nur scheinbar Wunden.
Nun weiß ich, dass ich immer blieb.
« Letzte Änderung: Mai 05, 2015, 15:26:13 von charis »

cyparis

Re: Vertrieben
« Antwort #1 am: Mai 03, 2015, 20:49:38 »
Liebe charis,


das ist eines der schönsten Gedichte, das ich in letzter Zeit zu sehen bekam!
Wundervoll, wundervoll.
Kommt in meine Gedächtnis-Sammelmappe.

Dankbaren und lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re: Vertrieben
« Antwort #2 am: Mai 03, 2015, 20:53:20 »
Hi, Charis!

Ein wunderschöner Text voller Erlebnistiefe und Schwermut!

Die Peanuts:

In S1 haben die Zeilen 1 und 3 jew. fünf Heber, die Zeilen 2 und 4 bloß vier. Da in S2 alle Zeilen vierhebnig sind, gehe ich mal davon aus, dass dieser Rhythmus erwünscht war.

Im fahlen Licht die alte Brasserie, Hier einfach "alte" streichen, dann passt es.
die Straßen sind noch menschenleer,
der späte Sommer liegt in Agonie Hier "späte" streichen, dann sind es vier Heber.
erdrückt von Wolken regenschwer.

Ein Lied klingt leis mir durch Äonen
in Worten, die ich längst vergaß,
erzählt von Riesen und Dämonen
und Schätzen, die ich einst besaß. Diese Strophe ist einfach nur wundervoll! Großes Tennis!!! - Schwelg!

Ich klammer mich an deine Hände,
dein Brief und ich im Ringelreihn.
In öden Straßen wächst das Fremde,
aus ockergelber Erde: Wein -

so süß der Duft von den Spalieren,
ein alter Baum, die Schaukel schwingt.
Wie konnt ich dieses Bild verlieren, Ohne Verkürzung: "Wie konnte ich das Bild verlieren,"
nicht hören, wie der Wind dort singt? Auch diese Strophe: Groß!

Die weichen Schwünge jener Weite
vor dunstverhangen Bergen - schroff
und wild - und du an meiner Seite,
ist Tag für Tag, was ich erhoff.

Der Kellner wischt die leeren Tische Komma hier.
und diese Stadt wird mir so fremd.
Ich bin der Bettler in der Nische
und rieche dein verschwitztes Hemd.

Der Schmutz klebt zwischen bloßen Zehen,
du läufst mir nach, ich lache laut.
Es legt sich Staub und ich kann sehen,
wie über Nebeln Himmel blaut. Wiederum: Sehr genossen!

Stets war ich diesem Land verbunden
aus dem mich ein Dämon vertrieb. Hier wird Dämon falsch betont - die erste Silbe wäre richtig. Altern.: " aus dem ein Dämon mich vertrieb."
Vergessen heilt nur scheinbar Wunden.
Nun weiß ich, dass ich immer blieb. Kann die Zeit hier so stimmen? Klar, dem Reim geschuldet, aber stimmt es "ausreichend"? ich bin unsicher...


Allergernst gelesen! Besonders die grün markierten Strophem, allen voran S2, sind wirklich gelungen! Topniveau! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re: Vertrieben
« Antwort #3 am: Mai 03, 2015, 22:35:07 »
Liebe charis,

es sind wunderbare, gefühlvolle Strophen, die sich zu einem tiefsinnigen Gedicht vereinen.

Es spricht mich sehr an, danke.

LG
CB

 
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

gummibaum

Re: Vertrieben
« Antwort #4 am: Mai 04, 2015, 00:26:39 »
Tolles Gedicht, liebe charis. Deine Lyrik entfaltet sich reich und wächst mir ans Herz.

Liebe Grüße
gummibaum
« Letzte Änderung: Mai 04, 2015, 00:56:36 von gummibaum »

charis

  • Gast
Re: Vertrieben
« Antwort #5 am: Mai 05, 2015, 15:12:47 »
Hallo, ihr Lieben!

Ich danke Euch sehr herzlich und freue mich sehr über das große Lob!

Bevor ich aber zuviele Lorbeeren einheimse, muss ich sie mit dem Autor Khalid Hosseini teilen, dessen Roman "Traumsammler" mich dazu inspiriert hat. In einem Handlungsfaden wird ein kleines Mädchen aus einer in Armut lebenden afghanischen Familie zur Adoption freigegeben. Sie wächst in Paris auf und erfährt erst spät in ihrem Leben die Wahrheit über ihre Herkunft. Man könnte sagen, sie hat Glück gehabt, aber kann man das "Glück" nennen?  Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer hat mich an diese Geschichte erinnert. Ich habe über die vergessenen oder auch nur verdrängten "Seelenlandschaften" nachgedacht , die die leidgeprüften und entwurzelten Flüchtlinge - vor allem die Kinder - wohl ihr Leben lang in sich tragen, selbst wenn sie das Glück haben, zu überleben, vielleicht irgendwo aufgenommen zu werden und ein erträgliches Leben ohne die ständigen Bedrohung durch Krieg und Armut führen zu können.

@Eky: Danke für die Anregungen, die ich gerne übernommen habe.
Ob die Zeitform im letzten Vers "ausreichend richtig" ist, weiß ich auch nicht, gefühlsmäßig schon.

Gummibaum hat an aaO "dunstverhangen Berge" S5V2 angesprochen und "dunstverhangnen" vorgeschlagen. Ich versuche Verkürzungen nach Möglichkeit auch zu vermeiden. Ist "dunstverhangen" also ausreichend richtig? 

Lieben Gruß
charis



Erich Kykal

Re: Vertrieben
« Antwort #6 am: Mai 05, 2015, 19:45:40 »
Ich plädiere auf jeden Fall für "dunstverhangnen" - diese Verkürzung klingt ja vergleichsweise lyrisch.

Deine Version ist rein technisch nicht falsch, aber SEHR antiqiert - so würde das seit Jahrhunderten keiner mehr ausdrücken. ;) Ich denke, bei Walther von der Vogelweide und Zeitgenossen findet man das noch so ...  ;D

Ich muss gestehen, dass ich das "n" dort automatisch hineingelesen habe - wäre mir das aufgefallen, ich hätte es auf jeden Fall angsprochen und dasselbe vorgeschlagen wie Gummibaum.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

charis

  • Gast
Re: Vertrieben
« Antwort #7 am: Mai 08, 2015, 22:00:59 »
Dann lass ich es so, besser sehrantiquiert, als zungenbrecherisch  :)
Danke!
Lieben Gruß
charis

Letreo71

Re: Vertrieben
« Antwort #8 am: Mai 10, 2015, 23:33:51 »
Liebe Charis,

sehr gern bin ich in Deine, so wunderbar gestaltete Geschichte eingetaucht. :)
Schön, dass Du hierzu auch Deine Beweggründe mitgeteilt hast.
Mir gefällt besonders die Sprache, wie in all Deinen Gedichten.

Nachdenkliche Grüße,

Letreo

charis

  • Gast
Re: Vertrieben
« Antwort #9 am: Mai 12, 2015, 18:25:34 »
Vielen Dank, liebe Letreo,
Ich habe mich sehr über deinen liebenwürdigen Kommi gefreut!
Lieben Gruß
charis