Autor Thema: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit  (Gelesen 1193 mal)

Fridolin

O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« am: April 15, 2015, 12:42:58 »
O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit,
als sanft die Mühn des Tags zu Ende gingen,
mich süße Träume ruhevoll umfingen,
verweigerst mir des Schlafes Seligkeit
 
und stößt mich in die tiefste Dunkelheit,
wo statt der Engel mit den sanften Schwingen
eiskalte Schatten mich im Schlaf umringen,
dass meine Seele bang in Ängsten schreit:
 
Hilf, Himmel, gib mein Seufzen nicht verloren!
Kein Auge kann durch solches Dunkel dringen.
Erfroren ist des Frohsinns heitrer Wille.
 
Lass mir des Lebens Quelle neu entspringen!
Das Dunkel dringt wie Eisgang in die Ohren.
Kein Rauschen mehr. Klingt so des Todes Stille?
« Letzte Änderung: Mai 07, 2015, 07:47:52 von Fridolin »

Erich Kykal

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #1 am: April 15, 2015, 18:54:11 »
Hi, Fridolin!

Ein sehr gelungenes Sonett, schon anderswo gelesen! Wichtig, wie ich finde, der dortige Hinweis auf den Ursprung das "Rauschens"! Auch ich kenne - zum Glück nur kurzzeitig - die Zustände eines beschädigten Gehörs: Ich hatte Tinnitus und hörte zu anderer Gelegenheit das Pumpen des eigenen Blutes. Bei mir ging beides vorüber, aber ich weiß seitdem, was das für jene bedeutet, die das nicht mehr loswerden!

Gut hier, dass dieses Stück persönlicher Geschichte sich hier inhaltich so gut einfügt.

Deine Schüttelreime sind extrem gut, das will ich nicht in Frage stellen. Mir persönlich gefallen aber ungeschüttelte Gedichte besser, daher freue ich mich über jedes wertige Gedicht aus deiner Feder, das mal nicht mit Silben jongliert. ;) Hier zeigt sich auch, dass du diese Seite deines lyrischen Schaffens unbedingt forcieren solltest: Du schreibt wunderbare ernste Lyrik! :)

Sehr gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Fridolin

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #2 am: April 16, 2015, 15:36:41 »
Lieber Erich,

leider macht mir mein Tinnitus zurzeit wieder sehr zu schaffen, er lässt sich - extrem laut, leider auch nachts -  bei dieser Wetterlage nicht mehr wie sonst nicht ausblenden. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Apropos Hoffnung, darüber habe ich hier auch schon mal philosophiert, vielleicht magst du das in meine Sammlung gelungener Gedichte einreihen:

http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=1803.msg9332#msg9332

LG Fridolin




cyparis

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #3 am: April 17, 2015, 14:51:57 »
Lieber Fridolin,

wie schmerzlich, Deine wundervollen Verse zu lesen!
Wie ein Schlag ins Sonnengeflecht: Der Name Joseph Weinheber.
Er gehört für mich zu den wenigen unerreichten Dichtern deutscher Sprache.
Erst bei ihm habe ich erkannt, zu welch hoher Kunst Enjambements werden können.
Ich war noch Teenager, bin aber nie wieder seinem Bann entkommen.

Was schwatze ich da -
es geht um Dein formvollendetes Gedicht.
Hätten wir hier eine Favoritenliste....

Dafür bekommst Du ***!
Hab Dank für diesen kostbaren Beitrag!

Lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Fridolin

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #4 am: April 17, 2015, 16:09:42 »
Liebe Cyparis,

habe vielen Dank für deine lobenden Worte. Das Sonett ist ja für mich untypisch und düster, bin ich doch ein trotz allem eher fröhlicher Mensch.

Weinheber gehört schon seit meiner Schulzeit zu meinen Lieblingsautoren. Anno 1956 durfte ich bei einer zentralen Abschlussfeier unserer Schule vor gut 1000 Zuhörern Weinhebers Ode "Dem kommenden Menschen" vortragen. Gedichtvorträge sind seitdem ein Bestandteil meiner Beschäftigung mit lyrischen Werken und seit ich mit Tinnitus und anderen Behinderungen leben muss (Schüttellähmung), auch ein Teil meiner logopädischen Übungen.

Noch ein Wort zu Weinhebers Sonettenkränze "An die Nacht". Beide begleiten mich schon seit meiner Schulzeit, als ein Lehrer mir Weinhebers "Späte Krone" geschenkt hat. Als ich nun kürzlich wieder darin las, nahm mich die Kunst seiner Sprache gefangen. Mir war's, als legte er mir die Worte zu meinem Gedicht in den Mund. Seltsam, nicht wahr?

Liebe Grüße
sendet dir Friedhelm

cyparis

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #5 am: April 17, 2015, 18:56:17 »
Lieber Friedhelm,


ich finde das nicht sonderbar. Ich kenne Gleiches oder Ähnliches (Elisabeth Langgässer).
Vortragen ist seit langer Zeit leider nicht mehr so "meins" (in der Schule war das anders), aber ich trage einmal jährlich im Kreis der Dichterfreunde bei Erich vor.
Es bereitet noch Freude, auch wenn die Stimme beschämend nachgelassen hat.

Tinnitus  u n d  Schüttellähmung, das ist ein arges Schicksal.
Ich bedaure Dich von Herzen!

Alles Liebe und Gute Dir!


Immer:
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

gummibaum

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #6 am: April 18, 2015, 03:34:27 »
Lieber Friedolin,

dein Tinnitus scheint weiterhin sehr belastend zu sein, und ich wünsche dir so sehr, dass sich da etwas zum Besseren ändert.

Das Gedicht gefällt mir sehr, besonders die Quartette. Große Spannweite trägt der Sinn auch noch in den Terzetten, nur im letzten Vers wurde meine Erwartung etwas enttäuscht. Man muss den Tinnitus wohl erlebt haben, um ihn sich so allumfassend, so fundamental und nicht nur als ein beliebiges Krankheitssymptom unter den unzähligen vorstellen zu können.

Ganz liebe Grüße von
gummibaum

 

cyparis

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #7 am: April 18, 2015, 09:15:20 »

Tinnitus


Lieber gummibaum,

ich, selbst betroffen, kann ein Lied davon singen.
Und ich habe noch ein riesenglück:
Bei mir ist es ein leises Rauschen und fernes Glockengeläut, mit dem ich im Alltag zurecht komme.
Aber würde dieser Pegel überschritten: Ich wäre niedergeschmettert.
Ich weiß von Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung das Leben nahmen.

Das Schlimme: Es gibt keine wirksamen Mittel dagegen.

LG
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Fridolin

Re: O Nacht, du dunkle, einst so holde Zeit
« Antwort #8 am: April 18, 2015, 15:35:56 »
Hallo Gummibaum,

dass dir der Schluss nicht gefällt, kann ich verstehen. Interessant ist, dass ein anderer Leser ihn eine positive Überraschung nannte, weil das Gedicht sich inhaltlich zuvor stark um Nacht und Dunkel drehte, und plötzlich schwenkt es hin zur Akustik. Es ist also nicht nur Nacht für die Augen, die düstre Nacht dringt auch in die Ohren ein, bewirkt dort aber etwas völlig anderes: die Befreiung von einem jahrzehntelangen quälenden Rauschen, für das lyrische Ich so unerwartet, so dass ihm nur noch die Frage bleibt: "Klingt so des Todes Stille?"

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

LG Fridolin