Autor Thema: Verloren in der Zeit  (Gelesen 1243 mal)

Erich Kykal

Verloren in der Zeit
« am: Februar 13, 2015, 20:48:01 »
Wir sinken hin nach aller Tage Abend
mit alten Augen, die so viel gesehen.
Zu Staub wird alles, wenn wir leise gehen,
verblasst und in Erinnerungen grabend.

Wer wüsste je die Zahl der Sterbestunden,
der Weisheit Fülle, dieser Welt verloren?
Sind wir in das Lebendige geboren,
dass mit uns stirbt, was wir darin gefunden,

und wie wir unsre Wirklichkeit gewahrten?
Was bleibt, das nicht in wenig hundert Jahren
verblichen ist und seltsam missverstanden?

Der Sinn der Worte, die wir um uns scharten,
als wir zu wissen glaubten, wer wir waren,
er kommt der Zeit nur allzu rasch abhanden.
« Letzte Änderung: Februar 14, 2015, 00:03:26 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #1 am: Februar 14, 2015, 00:39:57 »
Hallo Erich,

sehr schönes Sonett über die Vergänglichkeit. Mich hat es beim Lesen förmlich zu Staub verwandelt.

LG gummibaum
« Letzte Änderung: Februar 14, 2015, 14:17:12 von gummibaum »

Erich Kykal

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #2 am: Februar 14, 2015, 12:26:33 »
Hi, Gum!

Vielen Dank für die Blumen!

Wer liest heute noch mittelhochdeutsche Lyrik?
Wer verstünde ein Gedicht von Walther von der Vogelweide?
Gryphius klingt seltsam. Usw...
Je weiter wir uns von der Sprache einer Zeit entfernen, desto fremder und unverständlicher wird sie uns. Wir glauben ein Vermächtnis zu schaffen, aber selbst nach humanhistorischen Maßgaben ist es relativ kurzatmig!
Diesem Gedanken wollte ich schon seit längerem ein Gedicht widmen.

LG, eKy
« Letzte Änderung: Februar 14, 2015, 12:34:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #3 am: Februar 14, 2015, 16:36:59 »
Ja, ein wichtiges Thema, Erich. Es gibt zwar die Texthermeneutik, aber sie kann wohl nicht das Verständnis eines Zeitgenossen erlangen.

LG gummibaum



Erich Kykal

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #4 am: Februar 14, 2015, 18:17:21 »
Hi, Gum!

Die Hermeneutik als Denk- und Deutungskonzept habe ich nie so recht verstanden. Entweder ich verstehe einen Text, dann bin ich mir auch aller Auslegungsmöglichkeiten, zumindest so weit mein Bildungsstand dies zulässt, bewusst und beziehe sie in meine Überlegungen mit ein, oder ich verstehe ihn eben nicht, sei es mangels Wissen, kultureller Brücken oder einem zu großen zeitlichen Abstand geschuldet, dann gibt es auch keine Deutungsmöglichkeiten für mich - zumindest keine, die man als einigermaßen objektiv bezeichnen könnte.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #5 am: Februar 14, 2015, 19:10:17 »
Die Hermeneutik ist mir immer noch ein Buch mit fünf siegeln,
aber Dein Gedicht versteh ich sehr wohl!
Du hast hinreißende Wendungen drin, aber ich hab - leider! - im Moment keine Zeit, näher darauf einzugehen -
es tönt mir grad ein strenger Ruf.

Spätestens morgen viel mehr dazu!!!!


Cyparis
(immer)
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

gummibaum

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #6 am: Februar 15, 2015, 10:33:23 »
Hallo Erich,

falls wir in tausend Jahren den Alterungsprozess unserer Zellen gestoppt und das Vergessen durch zelluläre Festplatten von immer kleinerer Dimension aufgehalten haben, wird es schwer sein, die im Gedicht beschriebene Vergänglichkeit und die von ihm evozierte Stimmung zu verstehen. Hermeneutik bedeutet dann vielleicht Rezeption von Alterungsdrogen und Mikroprozessorviren, um sich zurückzuversetzen, und der hermeneutische Zirkel beginnt sich zu schließen, wenn Worte wie "verloren" oder "Sterbestunden" plötzlich wieder etwas anderes bedeuten als das vermeintliche Glück einer lange vergangenen Zeit.

Danke für das brillante und anregende Gedicht.  Einen schönen Tag wünscht dir

gummibaum

 
« Letzte Änderung: Februar 15, 2015, 16:36:58 von gummibaum »

cyparis

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #7 am: Februar 16, 2015, 12:31:36 »
Später, mein Lieber!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

charis

  • Gast
Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #8 am: Februar 18, 2015, 18:25:36 »
Lieber Eky,
Interessante Überlegungen und halt wie immer in feines Handwerk gegossen  :)
Aber müssen wir über so lange Zeiträume denken? Wir verstehen das, was wir uns gerade jetzt
gegenseitig zu sagen haben/sagen möchten und das, was gerade jetzt um uns herum "passiert" ja auch nicht,
oder zumindest viel zu selten.
Lieben nachdenklichen Gruß
charis




Erich Kykal

Re:Verloren in der Zeit
« Antwort #9 am: Februar 18, 2015, 19:48:02 »
Hi, Charis!

Wir erschaffen ja immer so gerne mit dem "Anspruch auf Ewigkeit" - jeder Künstler versucht, sich ein bleibendes Denkmal zu setzen. Ein Bildhauer oder Maler hat da mehr Glück als wir - seine Werke überdauern länger als die des Dichters! Aber selbst diese verlieren sich irgendwann in den Wirren der Zeit. Siehe Bernsteinzimmer oder all die von den Nazis verbrannten Kunstschätze, die gesprengten Buddhas in Afghanistan usw. usw...

Der Dichter genießt eher kurzlebigen Ruhm, weil die Sprache sich stetig wandelt - und wie ich bemerken muss, nicht immer zum Besseren! Die Proletenprogramme der quotengeilen Sender haben das Sprachniveau in den letzten Jahrzehnten drastisch gesenkt! Mittlerweile tauchen sogar in offiziellen Werbespots immer öfter eindeutige Fallfehler auf. Weit haben wir's gebracht - ey, Alda, Räspäkt, ey!

Vielen Dank für deine Gedanken! :)


Hi, Gum!

In tausend Jahren hat sich eine Sprache bereits bis zur Unkenntlichkeit verändert. Kaum einer - abgesehen von ein paar Sprachwissenschaftlern, wenn wir Glück haben - wird dann überhaupt noch verstehen, was wir geschrieben haben! Viel zu spät für uns also ...  ;D



LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.