Autor Thema: Sicher im Seichten  (Gelesen 1057 mal)

Erich Kykal

Sicher im Seichten
« am: Oktober 17, 2020, 09:45:38 »
Wir haben, einander umkreisend, gefunden,
worin wir uns gleichen und wortlos verstehen:
Die Runden, die wir auf der Lebensbahn drehen,
und fühlen uns so miteinander verbunden.

Wir pflegen einander die offenen Wunden,
die blutend in uns nach Verbindlichkeit flehen,
und wünschen sie endlich verheilen zu sehen,
wenn all die Entscheidungen endlich sich runden.

Wir hüten Geheimnisse, bergen sie treulich,
behalten das Unsere, treibend im Flachen,
wenn über den Tiefen Gefühle erwachen,

daraus wir ein wahres Bekenntnis erspüren,
darin wir vermuten, was wenig erfreulich
uns fände im Schutze verschlossener Türen.
« Letzte Änderung: Juli 01, 2022, 23:58:04 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #1 am: Oktober 19, 2020, 00:01:31 »
Lieber Erich,

ein Gedicht, das unwahrhaftiges Konfliktvermeidungsverhalten für ein seichtes Nebeneinander verantwortlich macht.

Schön indirekt geäußert, die Kritik daran.

Chapeau und Gruß von gummibaum



Erich Kykal

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #2 am: Oktober 19, 2020, 00:09:27 »
Hi Gum!

Ein "irreguläres" Sonett. Ist dir aufgefallen, warum?  ;)

Vielen Dank für den gezogenen Hut!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #3 am: Oktober 19, 2020, 00:38:32 »

Hallo Erich, jetzt wo du auf eine Absicht hinweist...

Irregulär, da Daktylus und durchgängig weibliche Kadenz? Vielleicht so verwendet, um im Sinne des Subjekts "Wir" jede Ratio und jeden Widerspruch durch eine Berieselung mit Harmonien zu unterdrücken. Sonst fällt mir dazu nichts ein.

LG g

Erich Kykal

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #4 am: Oktober 19, 2020, 17:25:54 »
Hi Gum!

Die durchgängig weibliche Kadenz ist im klassischen Sonett obligatorisch. Es sind der Daktylus und die Heberzahl pro Zeile.

Im klassischen Sonett: xXxXxXxXxXx - Fünfhebig

Hier jedoch: xXxxXxxXxxXx - Vierhebig

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #5 am: Oktober 21, 2020, 20:01:01 »
hallo erich,

ein sehr feines stückchen ist das. habs jetzt schon mehrmals gelesen - es gefällt mir immer wieder.

für mich könnte das gedicht auch nach den ersten beiden quartetten enden.

da du dich aber auf sonette eingeschworen hast, muss danach natürlich die antithese erfolgen...😁

ob dein LyrIch nun will oder nicht: dem gesetz des sonettes folgend bleibt es somit im seichten...

ich höre dahinter die (unausgesprochene ) sehnsucht des LyrIch, doch mehr zu wagen als bloß dieses seichte.
aber dazu müsste man schon aus der komfortzone herauskommen - und die gefahr des verletztwerdens oder abgewiesenwerdens ist eben immer da.

vielleicht zweifelt das LyrIch ja auch an sich selbst, kann nicht glauben, dass  jemals ein blick der liebe auf sein innerstes fallen könnte.....

man muss sich wohl erst mal selbst lieben können,um an die liebe zu glauben...


gerne gelesen und begrübelt,
larin



so bleibt halt alles gefühlte unter "sicherem" verschluss, sicher - aber halt auch unausgelebt.

Erich Kykal

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #6 am: Oktober 21, 2020, 21:54:21 »
Hi larin!

Vielen Dank für das freundliche Lob!  :)

Mein Hintergedanke hierbei waren die sog. "gesellschaftlichen Lügen", hinter denen wir uns gut und gerne verbergen, und die auch dabei helfen, uns selbst zu belügen oder zu verleugnen, wenn wir kulturell unerwünschte Gedanken hegen.

Die aufgesetzte Höflichkeit, die soziale Etikette, die Parameter unseres gemeinschaftlichen Funktionerens, die aber, über Generationen verfeinert und maniriert, oft genug irgendwann über das Nötige oder Wesentliche hinausgehen und zu paradoxen Ritualen erstarren, die längst nicht mehr das befördern, wofür sie einst erdacht wurden.

So geht man eben brav in die Kirche, damit die Gemeide nicht tuschelt, man setzt ein falsches Lächeln auf, wo man jemandem eigentlich ins Gesicht schreien möchte, tut nach vorne freundlich und hält hinter dem Rücken das sprichwörtliche Messer für jene bereit, die das Spiel nicht korrekt mitspielen wollen oder können.

Diese "Konventionen" sind das Seichte, in dem wir "sicher" schwimmen - denn was wäre die Alternative? Mord und Totschlag, Haberfeldtreiben und Lebendfeuerbestattung für alle, die nicht ins Bild derer passen, die gerade das Sagen haben ...
Ein gewisser "Rahmen" ist also nötig. Ich wehre mich oben bloß gegen die sinnlosen Erstarrungen und Übertreibungen, wo Althergebrachtes wichtiger wird als gesunder Menschenverstand, soziale Regulative plötzlich extrem unsozial wirken, Erstarrtes gehorsam und hirntot weitergetragen wird, selbst wenn sein einstiger Sinn sich längst überholt hat und widerlegt wurde.

Wenn das Seichte ZU flach zum Eintauchen oder Schwimmen wird ....

LG, eKy
« Letzte Änderung: Februar 10, 2022, 17:43:32 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

a.c.larin

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #7 am: Oktober 21, 2020, 22:31:53 »
hm, eigenartig - hab manchmal das gefühl, als würden wir in 2 verschiedenen welten (oder nur "blasen" ?) leben.
oder ist da so ein unterschied zwischen "stadt" und "land"?

also ich kenne niemanden in meinem persönlichen umfeld, der so unterwegs ist.
 (würde mich aber in so einem kreis wohl auch nicht lange bewegen wollen)

was ich aber akzeptiert habe ist: man kann nicht mit jedem über alles reden.
man kann auch nicht zu jedem zeitpunkt über alles reden - und es muss auch nicht jeder kontakt ein "tiefer" kontakt sein, damit es menschlich in ordnung ist.

das seichte(=das leichte) hat auch seinen wert.
anders gesagt: brot ist gesund - aber schokolade macht das leben süß!

lg, larin

Erich Kykal

Re: Sicher im Seichten
« Antwort #8 am: Oktober 21, 2020, 23:11:52 »
Hi larin!

Wir ALLE sind so drauf - ist es dir noch nie passiert, dass du jemandem eine knallen wolltest - aber es dann doch nicht tatest, weil gelernte Konventionen dich im Zaum hielten? Oder dass du öffentlich über jemanden herziehen wolltest, von dem du sicher warst, dass er es verdient gehabt hätte - aber du schwiegst dann doch, um ihm (und dir) Peinlichkeit zu ersparen, und weil man sowas eben "einfach nicht tut"?

Wir alle schleppen unseren Katalog erlernter Umgangsregeln mit uns, und vieles davon ist sinnentleert (man denke an die Benimmregeln und Etikette in Edelrestaurants oder bei Staatsempfängen, all das verkrampfte Schaugehabe, die Rituale ...) oder sogar kontraproduktiv, weil es längst nicht mehr dort steht, wo es gepflanzt wurde, oder weil wir uns weiterbewegt haben.

Vieles haben wir zurecht über Bord geworfen - den Chauvinismus, die "xunde Watschn" für Kinder (vor nicht mal hundert Jahren durfte der Lehrer noch legal verprügeln!), aber manches eben leider (noch) nicht. Und dazu gehört eben das intrigante oberflächlich freundliche Getue, hinter dem sich die Abgründe des Einzelnen verbergen ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.