Liebe Charis,
die Bilder sind schön, aber (aber der zweiten Strophe) von einer Fülle an Adjektiven überladen, die der Wirkung nichts hinzufügen, sondern die Sinne des Lesers überreizen. Auch empfinde ich persönlich es als störend, dass Deine Naturschilderung plötzlich in eine Liebesszene übergeht und damit endet. Deshalb wundere ich mich nicht sonderlich über das Störgefühl, das Cyparis ergriffen hat.
Was die Adjektive angeht, gibt es einen Trick: Mache sie zu Substantiven!
Die erste Strophe ist in Ordnung. In der zweiten scheint mir eine Sekunde arg kurz zu sein, aber es handelt sich ja wohl, im modernen Jargon gesprochen, um eine “gefühlte” Sekunde. Es könnte lauten: “Im Zauber dieser Sekunde(n)”. Das Adjektiv “zart” ist für eine Schneeflocke überflüssig, denn jeder weiß, dass sie federleicht und filigran sind. Die “glasklare Luft” überzeugt nicht, denn Schnee ist gefrorener Regen, und bei Regen ist die Luft nicht klar, und der Himmel ist nicht blau, sondern grau.
Durch den Verzicht auf zwei Adjektive am Anfang ist der Leser bereit, die nächsten zu akzeptieren, sie sind gut: “kahler Ast”, “gefrorener Grashalm”. Die Verse vier und fünf sind übrigens hervorragend. Aber dann …
Die letzten drei Verse dieser Strophe wirken überkonstruiert, den letzten ließe ich ohnehin weg, selbst wenn bei stärkstem Frost die warmen Leitungen unter der Oberfläche oder die Motoren fahrender Autos den Schnee in Matsch verwandeln. Der Asphalt zerstört das Anfangsbild, und der Leser hört an dieser Stelle auf, zu frieren. Das glänzende Eis will mir auch nicht recht einleuchten, dazu ist Eis von viel zu kompakt-stumpfer Konsistenz. Kann aber sein, dass ich bisher das falsche Eis betrachtet habe. Ich hätte geschrieben: “… der erstarrten Pfütze” oder “dem Spiegel der Pfütze”.
Zusammenfassend könnte diezweite Strophe so aussehen:
Im Zauber dieser Sekunden
schweben tausend Schneeflocken
durch die getrübte Luft,
irrlichtern um Straßenlaternen,
jede auf der Suche nach ihrem Platz
auf dem kahlen Ast,
dem gefrorenen Grashalm,
der erstarrten Pfütze.
Bleibt die dritte Strophe, die Stoff für ein eigenes Gedicht ist. Damit will ich nicht sagen, es sei nicht möglich, eine Symbiose zwischen Natur- und Liebesgedicht zu schaffen. Aber das muss ein Gewebe sein. In Deinem Gedicht stehen sich die beiden Sujets jedoch entfremdet gegenüber: Bruch zwischen den ersten beiden und der dritten Strophe.
Entschuldige, dass ich mich über Dein Gedicht so ausgebreitet habe, aber ich sehe darin so viel an Potential, dass es mich bis in die Fingerspitzen gejuckt hat.
Lieben Gruß
Aspasia