Als ich die Anomale kennenlernte ....
war sie anfangs eher maulfaul. Von den Schweizern erwarte ich - vorurteilig - von vornherein keine große Eloquenz, aber das, was sie schriftlich produzierte, hatte mich neugierig gemacht.
Sie hatte lange Zeit gezögert, sich mir persönlich zu präsentieren:
Verständlich, denn sie ist eine völlig durchschnittliche Person, der ich weder ein "Hüh!" noch ein "Hott!" zugetraut hätte.
Farblos, fast konturlos. Ein leicht schwammiges Gesicht. Die Figur von Schlabberkleidung kaschiert. Überraschend wohlgeformt: Die Hände.
Fast zart. Langgliedrige Finger mit sehr schönen Fingernägeln, auf Kürze getrimmt wie bei Klavierspielern.
(Kein Wunder, daß sie in rasender Eile tippen kann!).
Nach und nach - bei Kaffee, Tee und Kuchen - kam doch so Einiges zum Vorschein.
Eine sehr unglückselige vita.
Die Mutter: Haushälterin bei einem jesuitischen Internatsleiter. Sich ob des unehelichen Kindes minderwertig und gedemütigt fühlend.
Der Vater: Streng, die Mutter verachtend ob ihrer Sünde und selbstverständlich die Vaterschaft nicht anerkennend.
Das prägte entscheidend.
So entstand früh eine Polarität in ihr:
Der Gedanke, minderwertig zu sein und das starke Gefühl, durch den Erzeuger gottähnlich zu werden.
Das Gefühl überstieg im Lauf der Jahre den Gedanken, wurde übermächtig.
Sich selbst in den Himmel zu heben, zumindest ein Engel zu werden, beherrschte die frühen Jahre, das Großwerden.
Der Widerstreit führte zu psychischen Störungen, die bereits in der Pubertät zu klinischen Behandlungen zwangen.
In d e r Zeit wurde eine gewisse Polyphrasie festgestellt, die sich trotz medizinischer Behandlung manifestierte.
A. war durchaus intelligent, sprachlich sehr begabt und den "Schönen Künsten" zugewandt. Eine interessierte, aber Tunnel-Blick-Leserin.
Aus ihrem Raster Fallendes hat sie konsequent ignoriert.
Es hat einiger Treffen bedurft, um das von ihr zu erfahren.
Aber dann schienen die Schleusen geöffnet zu sei; die Suada kannte kaum Pausen.
Ihr Haß gilt all den Erdenwürmern (auch mir), die ihre Göttlichkeit weder anerkennen noch sehen wollen.
Trotzdem bricht es immer wieder aus ihr heraus - wenn ich als meist schweigendes Wesen (Wurmwesen!) gegenübersitze.
Auffallend ist der Egotismus.
Der Hinweis auf "Das Ich und die Vielen" (Mitscherlich) verfing überhaupt nicht, weil das am Wesen der Befindlichkeit völlig vorbeiging.
Erstaunlich!
Hin und wieder fühlte ich mich überrannt. Auch herabgesetzt, aber das hatte ich erwartet.
Trotzdem hat sich A. mehrmals mit mir getroffen.
Zum letzten Mal im Herbst 2013.
Danach hat sie jeden Kontakt verweigert.
Keine Begegnungen, keine Interviews mehr.
Dabei ist sie ein klassiches Fallbeispiel. Hochinteressant.
Was mich am meisten erstaunte:
Die Stimme der selbsternannten Dichtergöttin (Göttin überhaupt!) ist flach, ohne Modulation, ohne Betonung, ohne Melodie - sogar ohne Idiom.
Ich habe auch über den gesamten Lebenslauf kaum Aufschluß bekommen.
Fakten ab dem 35. Lebensjahr konnte ich nicht entlocken.
13. Dezember 2014
***
Von Aspasia geglückt korrigierte Fassung:
Als ich die Anomale kennenlernte, entpuppte sie sich als extrem maulfaul. Zwar habe ich von den Schweizern noch nie Eloquenz erwartet, aber die Schweigsamkeit der Anomalen stand im krassen Gegensatz zu dem, was sie schrieb und mich neugierig auf eine persönliche Begegnung gemacht hatte. Sie hatte lange gezögert, sich mit mir zu treffen, aber schließlich doch eingewilligt.
Mein Eindruck von ihr war alles andere als deckungsgleich mit meiner Vorstellung und meinem inneren Bedürfnis nach Schönheit und Harmonie. Vor mir stand eine unauffällige, farblose Person mit leicht schwammigem Gesicht und einem konturlosen Körper, der unter Schlabberkleidung versteckt war. Umso mehr überraschten mich ihre wohlgeformten, zarten Hände mit den langgliedrigen Fingern und den sorgsam auf Kürze getrimmten Fingernägeln.. „Wie bei Klavierspielern,“ dachte ich, „oder bei flinken Stenotypistinnen“. Dabei stellte ich mir vor, wie sie mit diesen Fingern in rasender Geschwindigkeit auf eine Tastatur einhämmerte.
Bei Kaffee und Kuchen taute die Anomale allmählich auf. Offensichtlich hatte sie Vertrauen zu mir gefasst, denn nach und nach kam ihre Vita zum Vorschein. Mit flacher, eintöniger Stimme trug sie mir die Vergangenheit vor:
Ihre Mutter arbeitete als Haushälterin für den Leiter eines jesuitischen Internats. Sie blieb unverheiratet und lebte mit ihrem unehelichen Kind somit „in Schande“, wie man es damals bezeichnete. Ihr Leben war begleitet von der Verachtung und Demütigung durch Leute, die sich für ordentlich und ehrbar hielten. Der Vater der Anomalen leugnete, ihr Erzeuger zu sein, was ihn nicht davon abhielt, das Kind streng zu behandeln und die Mutter wegen ihrer „Sünde“ zu erniedrigen. So etwas geht an einem Kind nicht spurlos vorbei.
Geprägt von einem negativen Umfeld entwickelte die Anomale eine Polarität: Das von der Mutter vermittelte Gefühl der Minderwertigkeit begann sie mit der Vorstellung zu kompensieren, eine Göttin oder zumindest ein Engel zu werden. Im Laufe der Jahre von der Pubertät bis zur Adoleszenz manifestierte sich dieser Wahn zu einer dauerhaften psychischen Störung, Polyphrasie genannt, gegen die alle psychotherapeutischen und medizinischen Behandlungen machtlos blieben.
Ihre Lebensgeschichte erschütterte mich, denn ich erkannte in der Anomalen einen intelligenten, sprachlich hochbegabten und kulturell breitgefächerten Menschen, dem jedoch ein großes Hindernis im Weg stand, sich diese Eigenschaften nutzbar zu machen. Dieses Hindernis trug den Namen „Hass“.
In die Hass-Kartei wurde jeder aufgenommen, der die Göttlichkeit der Anomalen nicht anerkannte. Das war so ziemlich jeder Mensch, er sich auf sie eingelassen hatte, aber der Aufforderung nicht Folge leisten wollte, ihr nach der Offenbarung ihrer Vita den göttlichen Saum zu küssen. Ihre Hass-Kartei muss inzwischen die Taillenweite der Erde haben und ziemlich genau dem aktuellen Stand der Weltbevölkerung entsprechen.
Dies alles fand ich bei einigen Treffen heraus. Vernünftige Diskussionen waren nicht mehr möglich. Auch mein Hinweis auf Mitscherlichs „Das Ich und die Vielen“ verfing nicht, dazu war ihr Egotismus zu stark ausgeprägt: An ihrem Wesen hatte die Welt zu genesen. Sie machte sich zum Dreher des Fleischwolfs und aus mir (und der übrigen Welt) ein Mettwürstchen.
Vermutlich war ich als Mettwurst nicht genießbar, denn nach einigen Treffen, letztmals im Herbst 2013, schlief der Kontakt ein. Zu früh, um über ihr 35. Lebensjahr hinaus mehr zu erfahren.
Aber was an „mehr“ hätte das sein sollen?
Ich war bereits in der Kartei.