Autor Thema: Morgen ohne Gestern  (Gelesen 1064 mal)

galapapa

Morgen ohne Gestern
« am: September 12, 2013, 15:56:18 »
Ein heller Rand am Horizont, türkis,
ganz seltsam kalt, so steigt der Tag herüber
und keiner weiß, wo er das Gestern ließ,
als gäbe es nur ein Danach im Heute.
Erinnerungen wurden alt und trüber,
ganz langsam des Vergessens leichte Beute.

Ich hör ein Flüstern: „Dreh dich nicht mehr um,
dort ist die Nacht mit ihren tausend Ängsten!
So wie ein Nichts regiert sie, blind und stumm,
drum kann es Hoffnung nur im Morgen geben.“
Das Jetzt, es ist präsent und währt am längsten;
wie mit dem ersten Tag beginnt mein Leben.

Nun ist es gut, auf einmal alles neu,
nichts hinter mir, nicht Leiden noch Gefahren.
Kein Zögern mehr und keine falsche Scheu,
ich fühle frei und seltsam ungebunden,
weil die gelittnen Zeiten niemals waren.
Ich habe endlich meinen Weg gefunden.
« Letzte Änderung: September 13, 2013, 11:51:01 von galapapa »

Erich Kykal

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #1 am: September 12, 2013, 19:07:31 »
Hi, Charly!

Sehr schön!

Ein paar Kleinigkeiten und stilistische Tipps:

S1Z5 - Kein Komma nach "Erinnerungen"!
S1Z6 - "des Vergessens leichte Beute" klingt eher unlyrisch, allgemeinsprachlich. Würd ich umschreiben, mit "reute" oder "bereute" als Reim.

S3Z1 - 2mal "ist" in einer Zeile. Alternative: "Nun ist es gut und alles noch so neu,"
S3Z2 - "ich fühle frei und..." Vermeidet die unschöne Verkürzung.
S3Z6 - "Ich habe endlich..." Dito.


Sehr gern gelesen und bearbeitet!

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #2 am: September 12, 2013, 20:23:42 »
Lieber Galapapa,

von deinen Gedichten fühle ich mich immer so besonders angesprochen, ich werde ganz tief hineingezogen und mir ist, als ob ich in mein eigenes Innerstes eintauchte.
Natürlich wäre es wünschenswert, wenn die schönen Zeiten und Erinnerungen erhalten blieben, aber der Rest könnte ruhig das Weite suchen!  :)
Hoffentlich gibt es von dir noch recht oft und ganz viele so schöne Gedichte zu lesen!

Lieben Abendgruß von
Daisy

galapapa

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #3 am: September 13, 2013, 12:07:29 »
Hallo Erich,
danke für Dein Lob und die Tipps!
Das Komma war ein übersehenes Überbleibsel einer Änderung. (Nicht dass Du denkst, jetzt weiß er überhaupt nicht mehr, wo Kommata hingehören. ;D)
"Des Vergessens leichte Beute", das ich so unlyrisch nicht finde um es nicht in diesem Text zu verwenden, kann ich der gewollten Aussage wegen nicht in ein "bereuen" umwandeln; mit Reue hat dies alles gar nichts zu tun. Das lass ich halt jetzt mal so.
Die anderen Vorschläge hab ich übernommen weil ich auch finde, dass es so besser klingt.
Besten Dank nochmal und herzliche Grüße!
Galapapa

Liebe Daisy,
danke für Dein Lob! Ich freue mich, dass ich Dich mit meinen Texten immer wieder berühren kann.
Den Inhalt kann man auf verschiedene Weise interpretieren. Man kann z.B. auch an einen dementen Patienten denken, der ein einem Schwanken zwischen Erinnern und Vergessen, oft auch in Wut über die eigene Unzulänglichkeit, irgendwann ganz in eine neue Welt abtaucht, eine Welt, die für Außenstehende dann unerreichbar ist.
Ich habe beobachtet, dass dieser Prozess für den Betroffenen scheinbar gar nicht unangenehm ist, sondern fast wie eine Erlösung.
So betrachtet bekommt der Text ein ganz anderes Gesicht.
Danke nochmal und ganz liebe Grüße!
Galapapa

Erich Kykal

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #4 am: September 13, 2013, 16:54:05 »
Hi, Charly!

Vor dem Alzheimerhintergrund gewinnt der Text gleich viel mehr Tiefe. Ich hatte eher an eine simple charakterliche Veränderung aufgrund von Einsicht und Lebensweisheit eines normalen Protagonisten gedacht. Seltsam - der Titel scheint mir auch nicht geholfen zu haben, dabei erscheint es, weiß man erst Bescheid, so folgerichtig und klar!

Einzig der "Weg" in der letzten Zeile stört mich nun ein wenig, denn dieser Begriff impliziert ja eine weitere Entwicklung, die ja bei diesem Krankheitsbild im Endstadium nicht mehr stattfindet. Stattdessen "meinen Frieden" oder so erscheint mir da statthafter.

In diesem neuen Lichte - nochmal sehr gerne gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #5 am: September 13, 2013, 18:55:57 »
Lieber Galapapa,

ein herzliches Dankeschön für die ausführliche Erklärung!
Dadurch eröffnet sich eine Perspektive, die ich beim ersten Lesen gar nicht bedacht hatte und nun wird auch völlig klar, warum das Vergessen alles einschließt.
"Morgen ohne Gestern" ist daher ein ganz besonders treffender Titel für dieses berührende Gedicht.

Liebe Grüße
Daisy

cyparis

Re:Morgen ohne Gestern
« Antwort #6 am: September 24, 2013, 14:14:38 »
Lieber Galapapa -


das Gedicht läßt mich nicht mehr los.
Es ist herrlich formuliert und lockt zum Nachsinnen ein, wieder und wieder!
Danke für den Genuß!


Herzlichen Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
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