Autor Thema: Gnädige Augenblicke  (Gelesen 1483 mal)

Erich Kykal

Gnädige Augenblicke
« am: September 15, 2013, 11:02:26 »
So seltsam wird mir ab und an zumute
an stillen Tagen ohne Halt und Wissen,
das mich erinnern machte und zerrissen -
dann ist mir nicht bewusst, dass ich verblute.

In solch entfernten Stunden holt die Rute
entblößter Reue aus, und das Gewissen
fühlt keine Schuldigkeit, kein Büßenmüssen -
und für Momente bin auch ich der Gute.

In keiner Wahrheit liegt das Absolute.
Ich finde mich in meine Qual verbissen,
in Einsamkeit von tausend Finsternissen
im Herzschlag jeder einzelnen Minute.

Ich weiß es wirklich nicht, doch ich vermute,
ein Schuldiger muss seinen Schmerz vermissen.
« Letzte Änderung: September 17, 2013, 11:46:30 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #1 am: September 15, 2013, 11:43:54 »
Sehr schön! Gemeint ist, dass jemand anderes gerade den Buckel gestrichen bekommt und die Rute also beschäftigt ist. Raffiniert.

Ich habe es amüsiert gelesen.

LG gummibaum

Erich Kykal

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #2 am: September 15, 2013, 11:48:53 »
Hi, Gum!

Nein. Es bedeutet, dass die Rute, die dich schlägt, nur eben mal besonders weit ausholt und dir so einen Augenblick der Erlösung schenkt, des Vergessens, ehe sie umso harter zuschlägt. Schuld kann man vielleicht kurz verdrängen oder sich ablenken lassen, aber ich fürchte, wenn sie fort wäre, der Mensch würde sie bald selber suchen gehen, weil er den gewohnten Schmerz vermisst, der ihm einzig zeigt, dass er noch lebendig ist und in der Welt verankert...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

galapapa

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #3 am: September 15, 2013, 12:37:45 »
Hallo Erich,
das ist großartig formuliert! Chapeau!
Hätte das eigentlich ein Sonett werden sollen? Ich finde, auch so wirkt der seltsame Zauber des Reimschemas a-b-b-a.
Sehr gern gelesen!
Herzlichen Gruß!
Galapapa

Erich Kykal

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #4 am: September 15, 2013, 16:00:15 »
HI, Charly!

Du wirst staunen, aber inspiriert wurde ich hierzu durch deine letzten Gedichte, "Gefangen" und "Späte Tage", von ersterem inhaltlich, von letzterem stilistisch.

Es sollte tatsächlich ursprünglich ein Sonett werden, aber dann geschah zweierlei: Zum einen gingen mir die Reime aus (ich wollte es mit bloß zweien durchziehen), zum anderen erkannte ich, dass die nun letzten beiden Zeilen, mit denen ich die Terzette begonnen hatte, eigentlich schon die perfekte Conclusio bildeten. Also warf ich die Sonettform kurzerhand über Bord. In solchen Dingen bin ich - auch einem Effekt im Einzelfall zuliebe - anpassungsfähig! ;D Du hast mich da perfekt durchschaut!

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #5 am: Oktober 09, 2013, 12:08:41 »
Lieber Erich,


wie so oft, oft bin ich hingerissen.
Du bist wahrhaft ein Zauberer.
Wenn auch der Inhalt (bzw. die conclusio) mich zurückschrecken ließ, so kann ich doch akzeptieren, daß ein Mensch so empfindet.

Wunderbare Gestaltung!


Lieben Gruß
von
Cyparis



PS
Inzwischen sehe ich Deine Gedichte nicht nur, ich höre sie auch. Von Deiner sonoren, hypnotisierenden Stimme vorgelesen.
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #6 am: Oktober 09, 2013, 16:09:59 »
Hi, Cypi!

In diesem Gedicht spricht meine tiefste Dunkelheit - jener Teil von mir, für den es niemals Erlösung geben darf und wird! Die Rute der Reue, ihn zu züchtigen, wird niemals ruhen, solange ich atme! Aber ich muss ihn zwischen den Hieben auch umarmen und trösten, denn jeder Teil von uns, den wir nur wegsperren und vergessen wollen, schwärt und eitert uns die Seele zuschanden!
Ich muss akzeptieren: Auch das bin ICH! Auch wenn ich es mir nie so ausgesucht hätte...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #7 am: Oktober 09, 2013, 17:08:11 »
Ein inzwischen verstorbener Freund nannte das

Fatum

***

In diesem Gedicht spricht meine tiefste Dunkelheit - jener Teil von mir, für den es niemals Erlösung geben darf und wird! Die Rute der Reue, ihn zu züchtigen, wird niemals ruhen, solange ich atme! Aber ich muss ihn zwischen den Hieben auch umarmen und trösten, denn jeder Teil von uns, den wir nur wegsperren und vergessen wollen, schwärt und eitert uns die Seele zuschanden!
Ich muss akzeptieren: Auch das bin ICH! Auch wenn ich es mir nie so ausgesucht hätte...


Das besonders Düstere scheint mir darin zu liegen, daß sich Züchtigung und Umarmung noch nicht einmal die Waage halten, sondern daß die Züchtigung sozusagen die Oberhand gewonnen hat, statt (wie zu wünschen wäre) umgekehrt.
Abgründe!
Ich bin tief betroffen.
« Letzte Änderung: Oktober 09, 2013, 17:47:59 von cyparis »
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #8 am: Oktober 10, 2013, 09:23:36 »
Hi, Cypi!

In diesem Falle scheint die Züchtigung zu obsiegen, weil es eben zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, da das seelische Dunkel stärker die Filter durchdrang und meine Selbstsicht entsprechend beeinflusste. Ich habe diese Thematik auch schon von lichteren Standpunkten aus behandelt. In diesem Falle ist das Ergebnis eben besonders stimmungsabhängig.

Also keine Sorge - ich habe meine Dämonen durchaus im Griff! :)

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Gnädige Augenblicke
« Antwort #9 am: Oktober 10, 2013, 10:57:47 »
Wenn das so ist, bin ich beruhigt.
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte