Autor Thema: Der Chronist  (Gelesen 1534 mal)

Erich Kykal

Der Chronist
« am: Juni 02, 2013, 11:26:09 »
Hörst du die Stimmen der raunenden Schatten,
fühlst du den Lufthauch der treibenden Zeit?
Lernst du, wo Schicksal und Lebtag sich gatten,
vom Gleichmut der Dinge und bist du bereit?

Hast du die Zeilen am Urgrund gelesen,
wurzelt dein Schauen im Nabel der Welt?
Stehst du, ein wahrer Betrachter von Wesen,
im Einklang mit alledem, was dich erhält?

Weißt du die nötigen Gegengewichte
am Uhrwerk der Tage und kennst ihren Gang?
Siehst du die Zeiger? Sie schreiben Geschichte
den ewigen Kreislauf des Blutes entlang.
« Letzte Änderung: Juni 02, 2013, 15:22:58 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Der Chronist
« Antwort #1 am: Juni 02, 2013, 14:23:59 »
Lieber Erich,

alles in eine dreifältige Frage gestellt, was den guten, feinsinnig und sorgfältig die Dinge ans Licht hebenden Chronisten ausmacht. Das finde ich eine gute Form, weil sie nicht definitorisch eng sitzt. Die Bilder sind phantastisch.

LG gummibaum

Erich Kykal

Re:Der Chronist
« Antwort #2 am: Juni 02, 2013, 15:48:26 »
Hi, Gum!

Ich wollte es so wirken lassen wie Fragen, die ein Ausbilder dieses Berufsstandes (gibt es natürlich nicht - deshalb ist die geschriebene Geschichte ja auch oft so, wie sie ist... ::)) seinem scheidenden Lehrling mit auf den beruflichen Weg gegeben haben würde. So eine Art grundsätzliche Richtlinien, natürlich sprachlich verfeinert, überhöht oder in Symbolen gefasst - wie sie so gern in "heiligen Büchern" als Gebote stehen, bloß viel prosaischer, damit es auch die Dümmsten verstehen, von denen jede Religion ja letztlich lebt.
Am besten formuliert man solche Grundsätze aber nicht als Gesetze, deren Einhaltung bei Strafe eingefordert wird, sondern als Fragen, die sich jeder aus freiem Willen stellen kann, der die Sache objektiv und ernsthaft zu betreiben gedenkt.

Vielen Dank für deine Gedanken!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Der Chronist
« Antwort #3 am: Juni 03, 2013, 17:17:18 »
jaja -
alles gut und recht.
Aber "gatten" ?

Heute und hier ohne Kniefall:

Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Der Chronist
« Antwort #4 am: Juni 03, 2013, 17:27:06 »
Hi, Cypi!

Wie soll ich nur leben ohne das imaginäre Geräusch deiner krachenden Kniescheiben??? ;D

Nee, im Ernst: Kennst du das Wort nicht oder gefällt es dir nicht? "Sich gatten" ist ein älterer Ausdruck für Naduweißtschonwas, gehobene Sprache. Wurde auch im übertragenen Sinne für "sich verbinden" benutzt, so wie hier... ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Der Chronist
« Antwort #5 am: Juni 03, 2013, 17:43:30 »
Ich kenns nur mit dem Affix "be".
Ob jetzt solo oder verbunden (sich). ;)

Vielleicht bin ich wirklich total vergreist.....?
Der Schönheit treu ergeben
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copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Der Chronist
« Antwort #6 am: Juni 04, 2013, 13:00:21 »
"Sich begatten" ist/war die Form für Tiere, "sich gatten" war früher die gehobene Form für Menschen - für die tätige Ausübung ehelicher Pflichten... ;D

Wie gesagt, nicht nur, was Sex angeht, es stand auch poetisch für: Sich verbinden, vereinigen in jeglicher Hinsicht.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
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Daisy

Re:Der Chronist
« Antwort #7 am: Juni 04, 2013, 15:53:43 »
Hallo Erich,

diese schön gestalteten Verse werden von einer herrlichen Melodie getragen und schmeicheln sich regelrecht in die Sinne.
Die Fragen sind so raffiniert verfasst, dass ich immer wieder von Neuem anfange zu lesen und ständig versuche entsprechende Antworten zu finden.

Du hast es geschafft mich ganz schön nachdenklich zu machen!  :)

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Der Chronist
« Antwort #8 am: Juni 04, 2013, 19:59:55 »
Hi, Daisy!

In Antwort #2 hab ich meine Intention ja schon dargelegt.

Betreff Melodie: Viele Dichter vernachlässigen das: Sie sind auf ihre inhaltliche Intention fixiert und wie sie diesen Inhalt klarestmöglich rüberbringen, dafür opfern sie dann oft den flüssigen Duktus und die Sprachmelodie. Sperrige Begriffe, schrille Vokale, Konsonantenauffahrunfälle, Zischlaute, Betonungen, die dem Rhythmus der Zeile zuwiderlaufen oder ganz einfach Worte, die in besagte Melodie nicht passen...es gibt viele Möglichkeiten, ein gutes Gedicht zu killen! ;D

Für mich ist es wie für Rilke: Zuerst der Klang, der Fluss, die Harmonie der Sprache - erst dann Inhalt und Aussage! Rilke verstand es natürlich, beides optimalst zu vereinen - ich halte es eher so, dass ich auch schon mal mitten im Gedicht woanders hin abbiege, wenn es bestimmte klangerhaltende Wörter so diktieren. Ich ordne beim Dichten immer den Inhalt der möglichst optimierten Form unter. Manche mögen das bekritteln, vor allem sozial motivierte Gutmenschen, für die Lyrik immer eine soziale Aussage beinhalten muss, über die man sich gefällist und bitteschön schon vorher Gedanken gemacht haben muss, denn sonst wäre man als Lyriker ja nicht authentisch, sondern beliebig.
Dazu sage ich: Ich bin eben so, wie ich bin und tue, was mir als Wichtigstes in Sachen Dichtkunst erscheint. Wird es ein Stück Sozialkritik, weil es sich so ergeben hat - gut. Wird es etwas anderes - auch gut. Das durchgängig lyrische Klangbild des einzelnen Gedichts ist wichtiger als der Gedanke, den man jetzt - und ausgerechnet jetzt - unbedingt zu Papier bringen muss. Denn wer fragt Jahrzehnte später noch nach Zeit und Ort? Überleben wird, was in Klangbild und Fluss die größte Harmonie aufweist - zumindest bei lyrischen Texten. Auf welche realen Begebenheiten, zeitnah oder nicht, man diese Zeilen dann bezieht, wird - je nach Zitierenden - ganz unterschiedlich sein...und sein dürfen!
Das soll nicht heißen, dass der Inhalt unwichtig ist - im Gegenteil. Aber es muss beim Schreiben eben nicht unbedingt DIESER Inhalt zu exakt JENER Gelegenheit sein! Gib dich deiner inneren Stimme hin und lass dich von ihr tragen - wo auch immer hin! So kann ein Naturgedicht zu einem sozialen Gleichnis werden - oder umgekehrt! Eine Komödie kann in ein Drama umschlagen und ein tragischer Text sich plötzlich in Slapstick lösen - wichtig ist nur, dass das Klangbild aus einem Guss ist, dass Melodie drinsteckt von der ersten bis zur letzten Zeile. Denn nichts ist tödlicher für den wahren Freund des fließenden Wortes als auch nur eine einzige sprachliche Holperstelle! Der hypnotisch fesselnde Effekt des fluiden Duktus geht so einfach verloren: Man wird aus dem Flux gekickt und strandet knirschend auf dieser verbalen oder rhythmischen Untiefe!
Weniger empfindsamen Gemütern mag das nichts ausmachen, aber ich leide jedesmal geradezu körperlich, wenn etwas nicht stimmig (genug) erscheint.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Der Chronist
« Antwort #9 am: Juni 04, 2013, 22:10:11 »
Hallo Erich,

ja, ja, ja, genau so stelle ich mir das auch vor!

Du legst ganz präzise und ausführlich dar, wie ein Gedicht sein sollte und ich kann dir nur zustimmen,
ich selbst hätte es nicht so verständlich ausdrücken können, aber das ist haargenau das, was ich empfinde
und auch anstrebe, wenn ich ein Gedicht schreibe.
Es muss einen schönen Klang haben und ich muss seinen Rhythmus als angenehm empfinden.
Mein Gefühl muss ganz klar ja dazu sagen, dann passt es.

Ich werde mich auf jeden Fall weiter in diese Richtung orientieren.
Danke für diesen aufschlussreichen Beitrag!  :)

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Der Chronist
« Antwort #10 am: Juni 05, 2013, 15:35:39 »
Hi, Daisy!

Natürlich gibt es viele verschiedene lyrische Ansätze, aber ich freue mich, in dir jemanden gefunden zu haben, der ähnlich denkt!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Der Chronist
« Antwort #11 am: Juni 05, 2013, 19:52:43 »
Erich, mein Lieber!


Ich muß doch einen Anlaß finden, um Dein Gedicht zu kommentieren!
Sei doch nicht so streng mir mir.... :-*
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte