Autor Thema: Wehmut  (Gelesen 1508 mal)

Erich Kykal

Wehmut
« am: Juni 09, 2013, 12:16:31 »
Zu einer Stunde, da die hohen Winde
ein wenig Weißes durch das Blaue scheuchten,
beschlich die Frage mich, wie lang sein Leuchten
ein Fühlen trägt, das ich erneuert finde.

Geschmiegt an eines alten Baumes Rinde
sah Narben ich, die mir verblichen deuchten,
die blassen Wangen und die Seele feuchten
wie einem ängstlichen, verirrten Kinde.

Wir wachsen auf wie manche Brunnenlinde
zu lichtem Reigen und geschmückten Festen
mit frohem Klang und buntem Kranzgewinde,

und welken doch an wachsenden Gebresten,
vergehn mit Tand und Blumenangebinde
am Ende doch, so wie der Tag im Westen.
« Letzte Änderung: Juli 15, 2023, 00:44:32 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re:Wehmut
« Antwort #1 am: Juni 09, 2013, 13:48:35 »
Hallo Erich,

das Gedicht ist eine wohltuende Gehirnspülung inmitten gefäßverstopfender Korrekturen. Der Bogen ist schön weit gespannt von den Höhe der im Licht glänzenden Wölkchen bis zu den Tiefen des Niedergangs menschlicher Freuden. Die von dir neulich leise angemahnte Beschränkung auf jeweils nur zwei Reime in den Quartetten und Terzetten ist unter Zuhilfenahme veraltender Begriffe (deuchten, feuchten, Gebresten) gemeistert. Schön auch die Brunnenstelle, die mich -wie auch die blassen Kinderwangen- an Trakls "Herbst/Verfall" erinnert. Sehr gern gelesen.

LG gummibaum

cyparis

Re:Wehmut
« Antwort #2 am: Juni 09, 2013, 14:12:50 »
"Am Brunnen vor dem Tore,
da steht ein Lindenbaum...."

das kam mir in den Kopf.
Ich schließe mich gummibaum an.
Abgesehen von der Wortkunst:

Diese Lyrische Wehmut erzeugt Wehmut, Wehmut der besten Art.
Bei mir ganz ohne Bangigkeit, ohne Angst vor dem Sonnenuntergang.
Aber gefüllten Herzens in Erinnerung.

Einfach schön!


Lieben Gruß, Erich,

von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

galapapa

Re:Wehmut
« Antwort #3 am: Juni 09, 2013, 15:37:24 »
Hallo Erich,
ein von sanfter Melancholie getragener, berührender Text.
Mir geht es wie Cyparis: Angst kommt nicht auf; der Blick geht gelassen nach vorne, und mit einem Lächeln...
Liebe Grüße!
galapapa

Erich Kykal

Re:Wehmut
« Antwort #4 am: Juni 09, 2013, 16:38:03 »
Hi, Gum, Cypi, Charly!

Bei diesem Sonett bin ich sogar mit insgesamt nur 3 Reimen ausgekommen, da sich der umfassende Reim der Quartette in den Terzetten dreimal fortsetzt. Dieses Sonett ist also sozusagen sonettiger als nötig... ;D

Vielen Dank für euer Lob, das mich immer wieder aufrichtet und mir hilft, mich der etwas eitlen Illusion von Bedeutsamkeit hinzugeben... ;)  :D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Wehmut
« Antwort #5 am: Juni 10, 2013, 11:42:17 »
Hallo Erich,

dein herrlich melancholisches Sonett, das noch sonettiger als nötig ist  ;D, beweist einmal mehr wie unglaublich gut du es verstehst mit der Sprache zu spielen!
Es ist eine Wohltat diesen melodisch fließenden Versen zu folgen und sich ganz in den Text zu versenken.

Immer wieder von Neuem erstaunt und begeistert!  :)

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Wehmut
« Antwort #6 am: Juni 11, 2013, 00:22:06 »
Hi, Daisy!

Immer wieder von Neuem dankbar für Lob und Zuspruch! :D

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.