Autor Thema: Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen  (Gelesen 781 mal)

Eisenvorhang

  • Gast
Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen
« am: Mai 24, 2020, 18:01:38 »
Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen,
kein Leben weiß, wohin sie wirklich enden.
Durch dürre Wipfel wandern schon die gleichen
Verzweigungen, die sich der Nacht zuwenden.

Da zieht sie ein, die Nacht wie dunkles Laub,
wie es durch Gassen blättert, leise rauscht,
und jedes Tagwerk ward zu süßem Staub,
der sich in Schlummer schmiegt und Träumen lauscht.

Der Wald wiegt sich in Schwärze triebig nieder,
und ich, ein alter Freund, bald voller Scham,
befrag den bangen Wind: "Wann wehst du wieder?",
er spricht: "Ich bin ein Wunsch, der niemals kam".

Gesprochen von Fritz Stavenhagen: https://soundcloud.com/eisenvorhang/wie-weit-die-nachte-mir-in-tiefen-reichen
« Letzte Änderung: Mai 25, 2020, 11:55:09 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen
« Antwort #1 am: Mai 25, 2020, 02:00:02 »
Hi EV!

S1Z4 liest sich unnatürlich, mit "zuwenden" auf Silbe 2 betont. Alternative wäre: "Verzweigungen, die sich ins Dunkel wenden."

S2Z4 - Statt Komma und "den" hätte ich dort ein "und" gesetzt.


Ein tiefgründiger Text von Schwere und Unentrinnbarkeit, darin aber groß und schön.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen
« Antwort #2 am: Mai 25, 2020, 02:57:02 »
Hey Erich,

das Metrum ist doch völlig in Ordnung. Das “Wenden“ ist lautdominant, weswegen „zu“ unbetont ist. vgl. Lehre der Phonetik..
Wichtig war mir hier auch die Ableitung von „Zuwendung“.

Verzweigungen, die sich der Nacht zuwenden.
xXxXxXxXxXx


Danke für Deinen Beitrag!

vlg

EV
« Letzte Änderung: Mai 25, 2020, 08:16:45 von Eisenvorhang »

Sufnus

Re: Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen
« Antwort #3 am: Mai 25, 2020, 11:32:32 »
Hey EV!
Beim Wort "Zuwenden" liegt der spezielle Spezialfall ;) darin begründet, dass "Zuwenden" phonetisch von "zu wenden" unterscheidbar bleiben muss.
Also: "Die Hitze war sehr groß: Jetzt ist es Zeit, das Steak zu wenden." Hier ist "zu" unbetont und "wenden" betont.
Aber: "Die Liebe war noch größer: Zuwenden will ich Dir mein Herz!". Hier ist "zu" betont und "wenden" unbetont. Man kann die Zeile des zweiten Beispiels theoretisch auch mit Senkungsprall (bzw. kleiner Zäsur) so sprechen: xXxXxXx xXxXxXxX (der Leerschlag in der Mitte deutet eine Zäsur zwischen "größer" und "zuwenden" an), aber dann wäre nicht von Zuwendung (auch auf dem "Zu" betont) sondern vom Wenden wie beim Steak oder einem PKW die Rede, was ja gerade nicht gemeint ist. Es müsste also dann heißen: "Die Liebe war noch größer: Zu wenden will ich Dir mein Herz // in einer Pfanne anvertraun."
Formal hat eKy also erstmal recht damit, dass "zuwenden" in Deiner Zeile "Verzweigungen, die sich der Nacht zuwenden." eine metrische Abweichung erzeugt und einen Hebungsprall zwischen "Nacht" und "zu" bedingt....
ABER:
Ich liebe diese Zeile gerade wegen dieser kleinen Abweichung. Sie erlaubt es, hier eine schwebende Betonung zu verwenden (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Schwebende_Betonung ) und dieses Element erzeugt an dieser Stelle eine wunderbare Leichtigkeit, bewirkt, dass die Zeile "nicht so ganz von dieser Welt ist". Also: Aus meiner Sicht, gibt's daher hier nichts zu korrigieren! :)
LG!
S.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Wie weit die Nächte mir in Tiefen reichen
« Antwort #4 am: Mai 25, 2020, 11:44:18 »
Noch ganz kurz zu Dir, Erich: Die Zäsur durch das "und" zu verdrängen ist eine sehr gute Idee, die ich gerne übernehme, danke dafür!

Hey Sufnus,

ich lerne nie aus und hier zeigt sich wieder, in welches Thema ich mich just einarbeiten werde.
Mittlerweile aber, glaube ich, du weißt, dass ich mir hier und da Freiheiten im Metrum herausnehme.
Weswegen ich das einfach so stehen lasse. Mir ist auch die Nacht in der Zeile wichtig.

Ich danke Dir für die kleine Lehrstunde und werde sie verinnerlichen.

vlg

EV