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« am: Juli 25, 2014, 11:37:22 »
Ich stand da, die Sterne über mir, auf diesem Dach des höchsten Gebäudes unserer Stadt. Langsam wandte ich den Blick vom Himmel herab zu den wenigen Autos und Menschen, die sich weit unter mir auf den Straßen fortbewegten. Ein würgendes Gefühl stieg in meine Kehle, und ich hatte Angst, herunterzufallen. Alles drehte sich um mich herum, und das Flackern vor meinen Augen wurde immer heftiger, bis ich nur noch pulsierende Schwärze sah.
Heute, zwei Tage später, liege ich im Bett; es ist ein strahlend heller Sommermorgen, ein kleines Tablett steht auf dem Nachttisch, mit etwas Zwieback auf einem Teller und Pfefferminztee in einem grünen Becher darauf. Ich weiß: ich bin zuhause und habe zwei Tage lang geschlafen. Nebenan, im Radio, tönt ein Song von Onerepublic. Was ich mich seit Stunden frage, ist, was zum Henker ich eigentlich auf dem Hochhaus wollte. Die Frage hallt mir durch den Kopf, wie ein Echo aus dem Tal meiner Erinnerungen, und ich glaube, langsam kann ich ein Mosaik der Ereignisse zusammensetzen.
Es begann am frühen Abend in der Einkaufsstraße. Alle Plätze, alle Geschäfte und auch jeder Pflasterstein war proppevoll, und ich sah mir, etwas entnervt, die Schaufensterauslagen an. Irgendwo im Gewühl sah ich plötzlich diesen Mann, der mir so bekannt vorkam. Wie ein Verschwörer zwinkerte er mir zu, so als ob er mich erkannt hätte, und ging um die nächste Ecke. Ich folgte ihm, gespannt, was wohl kommen würde. Um die Ecke gebogen, sah ich ihn in derselben Distanz wie zuvor, verdeckt von einigen Passanten. Sein gelbes Hemd leuchtete in der Menge auf, während die Sonne ein farbenprächtiges Abendrot an den Himmel zauberte.
Wieder dieses Zwinkern. Wieder dieses Sich-davon-machen, bis zur nächsten Ecke, bis zum nächsten Mal. So ging es weiter und weiter. Mittlerweile war es dunkel geworden, die Straßen leerten sich. Ich fragte mich allmählich, wieso ich dem Typen eigentlich noch folgte, aber ich konnte den Bann nicht brechen. Ich musste wissen, wer er war, und warum er mir zuzwinkerte.
Wir gelangten an das besagte Hochhaus, und der mann verschwand im Hauseingang. Jetzt aber, sagte ich mir und folgte ihm in das Haus, scheinbar wie in Trance. Wir stiegen Treppe um Treppe nach oben (Warum nahmen wir eigentlich nicht den Aufzug ?). Ich hörte seine Schritte über mir. Ganz oben angekommen, öffnete ich außer Atem die letzte Tür.
Das erste, was ich sah, war der Mond, der in voller Größe vom dunklen Himmel leuchtete. Auch die Sterne funkelten in ungewohnter Intensität. Es war ein Anblick zum niederknien. Ich bestaunte ihn wie zum allerersten mal und kam dem Rand des Daches immer näher. Als ich mich schließlich nach dem Fremden umsah, war niemand da. Ich suchte das Dach ab, doch es war niemand zu sehen. Ich hörte leise Harfenklänge. Das war der Augenblick, als der Schwindel kam.
23.04.2014